von Holger Politt, Warschau
Mittlerweile ist das ungewöhnliche Projekt in die Jahre gekommen. Als 1998 der erste Band, die Jahre 1958 bis 1962 betreffend, in den Buchhandel kam, schlugen die Wellen beim Thema Volksrepublik Polen noch sehr hoch. Doch die Wogen haben sich geglättet. Die vielgescholtenen Mitarbeiter einer Dienstleistungseinrichtung (die »Postkommunisten«) haben in ihrer zweiten Regierungszeit (seit 2001) auch nur mit Wasser kochen können und vor aller Augen ihre Harmlosigkeit demonstriert, wenn es um Fragen alternativer Szenarien zur weithin herrschenden gesellschaftlichen Entwicklung geht. Die wesentlich aus der PVAP hervorgegangene Linke durchlebt im Augenblick ihre größte Krise, die erst noch zu meistern sein wird. Eine zugkräftige Alternative ist aus verschiedenen Gründen einstweilen nicht in Sicht. Zeit zum Nachdenken allemal. Und die könnte bestens genutzt werden für die Lektüre der umfangreichen politischen Tagebücher Mieczyslaw F. Rakowskis.
Sieben Bände liegen nun auf dem Ladentisch, der jüngste schließt mit den Sommertagen des Jahres 1981. Mit Spannung dürften die nächsten Bände erwartet werden, die den Leser bis 1989 führen sollen. Die bisherigen Bände sind eine Chronik fast der gesamten Gomulka- und der gesamten Gierek-Zeit. Geschrieben hat sie ein umtriebiger Chefredakteur, der die ihn bewegenden Probleme des Tages geduldig dem Papier anvertraute. So alle Notizen authentisch sind, woran kaum zu zweifeln ist, liegt eine bestechende Innenansicht des untergegangenen politischen Systems vor. Bei der Mehrzahl der Einträge führte die Sorge um die Zukunft des Landes die Feder – zumeist das sachliche Argument suchend. Freilich wird da geschimpft und geflucht bei kleinen und größeren Anlässen. Temperament und Engagement lassen sich nicht verleugnen.
Seinen Vorsatz, persönliche Dinge nur am Rande zu verhandeln, hat Rakowski eingehalten. Von der ersten bis zur letzten Seite spielt Politik die alles überragende Rolle. Er sparte nicht mit deftigem Urteil, etwa wenn es Ulbricht oder Breshnew zu Leibe ging. Oft genug war er der Verzweiflung nahe, wenn politbürokratische Engstirnigkeit wieder einmal dem kühlen Kalkül widersprach. Besonders beeindruckend die Schilderungen aus den letzten beiden Gomulka-Jahren, in denen der hartnäckig erarbeitete außenpolitische Erfolg so kraß im Widerspruch stand zur Situation im Lande selbst. Überraschend auch, wie schnell die Hoffnungen, die in Gierek gesetzt wurden, weithin verflogen. In Kenntnis des Ausgangs beinahe ein Drama mit Shakespearescher Dimension. Rakowski, nunmehr näher bei »Hofe« (ZK-Mitglied) als unter Gomulka, behält den Blick des unbestechlichen Journalisten bei.
Rakowskis Tagebücher sind – aus heutiger Sicht und Erfahrung – wider Willen ein Dokument des Scheiterns. Da wird noch einmal an ein politisches System erinnert, auf welches aus den verschiedensten Gründen auch wehmütig geschaut werden könnte. Heutige Miseren machen den verklärenden Blick mitunter vielleicht sogar sympathisch. Doch Rakowskis Aufzeichnungen sind unbestechlich – das Scheitern war dem System eingewoben. In einer Notiz aus den späten siebziger Jahren über ein Gespräch mit Jacek Kuron´, den Mitbegründer des Arbeiterselbstverteidigungs-Komitees KOR, steht zu lesen, es komme darauf an, daß die Gesellschaft lerne, sich in unabhängigen Institutionen zu organisieren. Mit kleinen Schritten werde die Macht zum Rückzug gezwungen. Immer mehr und immer weiter – bis die Sowjetunion auseinanderfallen wird. Ein Prophet? Rakowski notierte diese Gedanken voller Zweifel und Befürchtungen. Gnade uns Gott – so sein Kommentar –, wenn die sowjetischen Genossen davon erfahren. Nun ist genauso gekommen, wie es Polens berühmtester antikommunistischer Dissident einst vorausgesagt hat. Heute steht Jacek Kuron´ in seinem Land ganz links – an der Seite der Schwachen, Schulter an Schulter mit den neuen sozialen Bewegungen, für ein neues linkes Projekt.
Was könnte in deutscher Sprache herausgegeben werden? Vielleicht findet sich ein rühriger Verlag, der sich der Passagen über das polnisch-deutsche Verhältnis annimmt. Die regelmäßigen und ausführlichen Eintragungen über die Entwicklungen der Beziehungen Polens zur BRD und zur DDR fänden gewiß den deutschen Leser. Auch hier eine kleine Kostprobe: Anfang 1979 war ein (im Buch leider namenloser) Experte für deutsche Fragen aus der UdSSR-Führung im polnischen Außenministerium zu Gast und referierte vor ausgesuchtem Publikum – Rakowski war dabei – über die Beziehungen zur BRD. Diese Beziehungen, so der Moskauer Gast, würden strategische Bedeutung für jedes europäische Land erhalten. Auf die Frage aus dem Publikum, was das schließlich für die DDR bedeute, kam die verschmitzte, vielsagende Antwort – den Preis zu zahlen, lohne sich. Weshalb, so meine Frage, hat die DDR-Politik zehn kostbare Jahre verschlafen?
Was hier vorliegt, gleicht durchaus einem Steinbruch für den Zeithistoriker. Wer es eine Nummer kleiner liebt: Eine Fundgrube ist das Material allemal.
Mieczyslaw F. Rakowski: Dzienniki polityczne [Politische Tagebücher]. Bände 1 bis 7 (1998-1981). Verlag Iskry Warszawa 1998-2004. (Weitere Bände in Vorbereitung)
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