Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 15. März 2004, Heft 6

Kropotkin

von Hermann-Peter Eberlein

Selten ist unstreitig ein Revolutionär so human gewesen und – seines Widerwillens gegen das Bürgertum ungeachtet – so mild«, urteilte einst Georg Brandes über Peter Kropotkin – und diese Einschätzung gilt ebenso für dessen russische Literaturgeschichte, die jüngst zum ersten Mal seit dreißig Jahren in deutscher Sprache wieder herausgegeben wurde.
Dabei ist die Beschäftigung mit der Literatur nur eine eher unbedeutende Facette in Kropotkins Leben, denn er war ein Mann wahrhaft universaler Interessen: gelehrter Geograph und Glaziologe, Historiker und Soziologe, Soldat, Revolutionär und vor allem einer der größten Theoretiker des Anarchismus als der Theorie einer gewaltfreien Gesellschaft.
Wie Herzen, Bakunin und andere russische Revolutionäre gehörte er dem hohen Adel an: Fürst Peter Alexejewitsch, 1842 in Moskau geboren, wurde bereits als Fünfzehnjähriger persönlicher Kammerjunker des Thronfolgers, und eine glänzende Karriere wäre ihm sicher gewesen, hätte ihn nicht sein soziales Gefühl einen anderen Weg gewiesen. 1862 ging er zu den Amurkosaken, nahm an Gletscher-Expeditionen teil, wurde Beamter im Innenministerium und Sekretär der Russischen Geographischen Gesellschaft. 1872, auf einer Reise in die Schweiz, lernte er die anarchistisch organisierten Kommunen der Uhrmacher im Jura und in Neuenburg kennen, vertiefte sich in sozialistische Literatur – und fand als Revolutionär in seine Heimat zurück. Unter falschem Namen und als Arbeiter verkleidet, betrieb er in Petersburg Agitation, wurde verhaftet, konnte nach zwei Jahren fliehen, ging über Skandinavien, England und Paris in die Schweiz, wo er 1879 seine Zeitschrift Le Révolté herauszugeben begann. Nach dem Anschlag auf Alexander II. 1881 wurde er ausgewiesen und übersiedelte nach Paris, wo er zwei Jahre später zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. 1886 auf öffentlichen Druck hin begnadigt, folgten drei Jahrzehnte Exil in England, die angestrengter wissenschaftlicher und publizistischer Arbeit gewidmet waren und während derer er zugleich den internationalen Anarchismus zu organisieren half.
Nach der Februarrevolution 1917 kehrte Kropotkin nach Petrograd zurück. Ein Ministeramt in der Regierung Kerenski schlug er aus, die Oktoberrevolution lehnte er ab, Lenin mahnte er öffentlich zu Klassenfrieden und humanem Umgang mit Gegnern. Tief deprimiert starb er 1921 in der Nähe Moskaus; seine Aufbahrung im Säulensaal der Adelsversammlung wurde zu einem letzten gespenstischen Fanal der anarchistischen Bewegung: Für diese eine Demonstration hatte Lenin seine anarchistischen Gefangenen freigelassen, um sie als idealistische Linksabweichler danach auf Nimmerwiedersehen in ihren Kerkern verschwinden zu lassen.
Kropotkin hat Unmengen geschrieben: Erlebnisberichte, geographisch-statistische Untersuchungen, Agitatorisches, eine Geschichte der Französischen Revolution. 1892 erschien sein Hauptwerk La conquête du pain, 1899 seine Memoirs of a revolutionist, die bald ins Russische und ins Deutsche übersetzt wurden. Die Ideals and Reality in Russian Literature von 1905 hat Peter Urban nun in einer schönen, wenngleich nicht billigen Leinenausgabe wieder zugänglich gemacht.
In hinreißender, flüssiger Sprache schildert Kropotkin den Gang der russischen Literatur von den frühesten Anfängen im Igorlied über Puschkin und die großen Epiker (mit Schwerpunkt auf Turgenjew und Tolstoi, während Dostojewski deutlich zu kurz kommt) bis zu den »Volksnovellisten«, unter denen er Gorki besonders breiten Raum einräumt, und zur zeitgenössischen politischen Literatur und Kunstkritik.
Natürlich ist dies hundert Jahre alte Buch nicht auf dem Stand heutiger russischer Literaturgeschichtsschreibung. Hervorgegangen aus dem Mangel an zusammenfassender Darstellung und ausgearbeitet nach acht Vorträgen, ist es für uns weniger ein Sachbuch, sondern ein Denkmal seiner Zeit und vor allem seines Autors.
Und dessen teils luzide Einsichten in die russische Geschichte gelten noch heute: »Der Grund, weshalb die Literatur einen solchen Einfluß in Rußland ausübt, ist klar genug. Es gibt kein öffentliches politisches Leben …« »Die Verfolgung, der unsere Literatur und ganze Generationen von ›Intellektuellen‹ im neunzehnten Jahrhundert ausgesetzt waren, reicht als Erklärung für die Abwesenheit wahrer Lebensfreude in unserer Literatur völlig aus.« Oder, mit Bezug auf die achtziger Jahre des genannten Jahrhunderts: »In den fünfziger Jahren hatten die ›Intellektuellen‹ wenigstens vollen Glauben an die eigene Kraft; jetzt hatten sie selbst diesen verloren.« Wobei es wie ein Selbstbekenntnis des Autors klingt, wenn er die »unbezwingbare Kraft« rühmt, »die dem russischen Leser, allen Widrigkeiten zum Trotz, stets die hohen Ideale, die hohen Bestrebungen der Menschheit vor Augen führt und ihn daran erinnert, daß wahres Glück nur im unablässigen Streben nach menschlicher Weiterentwicklung liegt«.
So ist diese Literaturgeschichte des großen Anarchisten ein nicht nur sprachlich blendendes, zudem vom Herausgeber gut annotiertes und mit zwei Bibliographien versehenes, sondern vor allem eben ein zutiefst humanes Buch, das man in einem Zug lesen möchte, selbst wenn die englische Transliteration der russischen Namen manchem immer noch gewöhnungsbedürftig sein mag.

Peter A. Kropotkin: Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur. Herausgegeben von Peter Urban, Diogenes-Verlag Zürich 2003, 592 Seiten, 29,90 Euro