Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 29. März 2004, Heft 7

Augen zu und durch?

von Hans Walter, Budapest

Auf meinem täglichen Weg ins Büro werde ich regelmäßig von Leuten in unansehnlicher Kleidung angesprochen, die mir eine ebenso unansehnliche Zeitung verkaufen wollen. Es sind immer dieselben Leute, und es ist immer dieselbe Zeitung. Eigentlich handelt es sich um eine Obdachlosenzeitung, an der lizenzierte Verkäufer jeweils ein paar Forint mitverdienen können. Das Konzept funktioniert schon lange nicht mehr. Viele der Gestrandeten der ungarischen Hauptstadt, die ihren Tag und ihre Nacht hauptsächlich in den Unterführungen verbringen, fischen sich die schmutzigen Blätter aus den Papierkörben. Einen Käufer dafür habe ich bei ihnen noch nie beobachtet.
So manchen Passanten, der ein paar Forint durchaus erübrigen könnte, plagen Gewissensbisse, wenn er wortlos an den verhinderten Zeitungsverkäufern vorbeigeht. Andererseits gehören diese Gestrandeten seit Jahren zum Budapester Stadtbild, wie das Parlament und die Fischerbastei. Man hat sich daran gewöhnt, verschließt die Augen und geht an ihnen vorbei.
Diese Leute sind eine der sichtbaren Seiten, Teil der vielen Unzulänglichkeiten, die seit der historischen Rückwende vor mehr als einem Dutzend Jahren in Ungarn ans Tageslicht getreten sind und mit denen das Land in wenigen Wochen zu einem der neuen Mitglieder der Europäischen Union wird. Es gibt aber auch viele Dinge, die nicht so sichtbar sind wie die erfolglosen Bettler, Dinge, die viel größere Fragen aufwerfen.
Im Dezember hatte die ungarische Regierung den nicht besonders erfolgreichen Versuch unternommen, beim Brüsseler EU-Gipfel die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten in den Entwurf einer künftigen Verfassung zu lancieren. Daß man damit bei einigen der »alten Länder« nicht auf große Gegenliebe stoßen würde, war den ungarischen Emissären sehr wohl bewußt. Hier in Ungarn war es auch ein offenes Geheimnis, daß die eingeforderten Rechte der Minderheiten vor allem auf die in den Nachbarländern lebenden ungarischen Bevölkerungsteile zugeschnitten sein sollten. Den nationalen und ethnischen Minderheiten in Ungarn geht es ja angeblich blendend, das hatte man sich von der EU bereits mehrmals bescheinigen lassen …
Wer sich die heutige ungarische Gesellschaft jedoch etwas genauer ansieht, kann rasch erkennen, daß vor den dreizehn offiziell anerkannten Minderheiten nicht wenige Potjomkinsche Fassaden aufgebaut worden sind. Bereits 1990 hatte das »erste frei gewählte Parlament« eine Verfügung in die neue Verfassung geschrieben, nach der die Minderheiten eine angemessene Vertretung im Parlament erhalten sollten. Wie das »wahltechnisch« funktionieren soll, weiß allerdings niemand, und so ist diese Verfassungsbestimmung bis heute eine leere Phrase. Der Minderheitenbeauftragte des Parlaments, Professor Kaltenbach, geht inzwischen davon aus, daß es auch nach den nächsten Parlamentswahlen 2006 keine Vertretung von Minderheiten im Hohen Hause geben wird.
Den durchaus sehr aktiven Professor plagen inzwischen aber ganz andere Sorgen. Die mit Abstand größte Minderheit – die Roma – stellt auch jenen Bevölkerungsteil, der sich mit Abstand am weitesten im sozialen Abseits befindet. Die Zigeuner, wie sie sich selbst nennen, werden von der breiten Masse der Bevölkerung nur dann akzeptiert, wenn sie eine Geige in die Hand nehmen, singen und tanzen. Das macht schließlich denen keiner nach. Aus fast allen anderen Bereichen des Lebens sind die wahrscheinlich rund 500000 Roma so gut wie ausgeschlossen. Sie stellen den größten Anteil bei Arbeitslosen, Analphabeten und Gefängnisinsassen. Natürlich haben sie ein verbrieftes Recht auf eine höhere Bildung; aber wer schon in der Grundschule diskriminiert wird, dem ist der Zugang zu einer Universität faktisch verschlossen. Einige zarte Ansätze besonderer Förderung für junge Roma könnten, wie Professor Kaltenbach befürchtet, angesichts der aktuellen Sparpläne der sozialistisch-liberalen Regierung bald zunichte gemacht werden. Immerhin sollen rund 700 Millionen Euro aus dem Haushalt gestrichen werden – nach bisherigen Informationen wird das im Irak stationierte ungarische Militärkontingent davon nicht betroffen sein …
Weniger deutlich als die Obdachlosen und die diskriminierten Roma bemerkt ein Ungarn-Besucher den latenten Antisemitismus, der immer breitere Teile der Bevölkerung zu erfassen scheint. Um dieses Problem zu erkennen, muß man zumindest ein wenig Ungarisch verstehen. Bei den Zusammenrottungen nationalkonservativer Kreise sind antisemitische Reden, Schriften und Losungen nicht zu übersehen und zu überhören. Sind die Teilnehmer solcher Kundgebungen auch zum großen Teil Leute, die nach Marxscher Definition dem Lumpenproletariat zugerechnet werden müssen, so betrifft das ihre Redner und geistigen Führer keineswegs.
So ist zum Beispiel der recht populäre Dichter Kornél Döbrentei vor wenigen Wochen in Budapest wieder einmal durch eine Rede aufgefallen, deren Judenhaß nicht zu überhören war. Dies hatte schon wiederholt zu einiger Unruhe unter den Mitgliedern des Schriftstellerverbandes geführt. Für viele Schriftsteller war das Ende des Erträglichen jedoch erst erreicht, als jener Dichter für den »alternativen Kossuth-Preis« vorgeschlagen wurde. Der »richtige« Kossuth-Preis, nach dem bekannten Führer der ungarischen Revolution von 1848 benannt, ist die höchste Auszeichnung, die der ungarische Staat seinen Dichtern und Denkern zu verleihen hat. Er ist mit fünf Millionen Forint dotiert, das sind etwa 20000 Euro – für einen Schriftsteller hierzulande eine sehr erfreuliche Summe. Seit 1996 gibt es den Alternativen Kossuth-Preis, gestiftet von »Privatpersonen«, deren rechtskonservative Gesinnung kein Geheimnis ist. Der Alternativpreis ist mit einem Forint über dem echten Preis dotiert – eine stolze Summe für offen zur Schau getragene Dumpfheit.
Die Nominierung von Döbrentei führte zu einem Aufschrei unter den Schriftstellern des Landes. Mehrere von ihnen wandten sich mit einem offenen Brief an den Verbandsvorsitzenden, um ihn aufzufordern, dem Treiben ein Ende zu setzen. Der wiederum reagierte mit der Bemerkung, daß der Verband nicht dafür da sei, politische Probleme auszutragen. Daraufhin erklärten inzwischen rund hundert Autoren ihren Austritt aus dem Schriftstellerverband. Dabei handelt es sich um solche bekannten Namen wie György Konrád, Péter Esterházy, Magda Szabó, Ferenc Fejtö, László F. Földényi, Imre Oravecz, Mihály Kornis, Péter Nádas, Hans-Henning Paetzke, den ehemaligen Kulturminister Gábor Görgey und den Nobelpreisträger Imre Kertész. Auch László Krasznahorkai erklärte seinen Austritt. Er hat vor wenigen Tagen, am 15. März, dem ungarischen Nationalfeiertag, den »echten« Kossuth-Preis erhalten.
Angesichts all dieser und vieler weiterer Probleme könnte man durchaus die Frage stellen, ob denn Ungarn überhaupt reif ist für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Jeder aufmerksame Beobachter weiß jedoch, daß diese Frage meilenweit am Thema vorbeiführen würde. Wer die Probleme erkennt, die alteingesessene EU-Länder mit ihren Minderheiten haben – Spanien ist nur eines der deutlichsten Beispiele, und über den mehr als dreißig Jahre andauernden Krieg der britischen Regierungen gegen die Nordiren spricht schon fast niemand mehr –, wer diese Probleme erkennt und auch die antisemitischen Ausfälle im »alten Europa« nicht übersieht, muß die Frage anders stellen. Nicht erst seit den Anschlägen von Madrid ist deutlich geworden, daß »Europa« mit seinen Minderheiten nicht zurechtkommt und – nicht nur aus diesen Gründen – eigentlich auf eine Erweiterung alles andere als vorbereitet ist. Ob nun eine größere EU mit diesen Dingen besser fertig wird, darf angesichts der aktuellen Probleme dieses ausschließlich auf Profitmaximierung ausgerichteten Gebildes heftig bezweifelt werden.