von Gerhard Zwerenz
Der in eigenen konservativen Kreisen wegen des Verdachts unorthodoxer Gedanken nicht unumstrittene knabenhaft gestylte FAZ-Meisterfeuilletonist Frank Schirrmacher formulierte am 8. August 1997 in seinem Blatt ein paar erstaunliche Sätze als Programm »für die ungeschriebene Mentalitäts- und Geistesgeschichte von DDR und Bundesrepublik«: »Sie wird das akademie- und diskussionserprobte Ich porträtieren müssen, das in West wie Ost selbst noch an den apokalyptischen Warnungen vor der atomaren Gesamtauslöschung immer auch seine Größenphantasien zu erkennen gab.«
Vom FAZ-Idiom in menschliche Sprache übersetzt heißt das: Schirrmacher erkennt in den führenden Politikern und Akademikern, die sich aus Ost und West im Kalten Krieg befehdeten, jene Kräfte, die sich auch durch sehr reale Atomkriegsgefahren nicht abbringen ließen von ihren »Größenphantasien« – was besser »Größenwahnphantasien« genannt werden sollte.
Der Ausweg aus der drohenden Apokalypse, laut Schirrmacher: »Die Historisierung der beiden Republiken gibt allmählich Material frei, das die intellektuelle Verfassung des vereinigten Landes zu verändern verspricht.«
Veränderung wohin? Das Rezept wird nebenan in Leitartikel und Wirtschaftsteil als »Freie Bahn den Globalisierungsgewinnlern« ausgefertigt, so dient der Feuilletonist vor Ort als Kranzlieferant am Friedhof der Opfer, das heißt jener achtzig Prozent von Beschäftigten, die arbeitslos gemacht werden, setzt die Globalisierung sich unkorrigiert durch, in deren Folge zwanzig Prozent der heutigen Arbeitnehmer genügen, alle benötigten Waren zu produzieren. Dies die intimen Nachrichten aus dem USA-Paradies, dessen deutsche Kapitalmagnaten über die famosen FAZ-Goldfedern ihre Interessen kundtun.
Wohin also soll die Reise gehen? Im Kalten Krieg richteten sich die deutschen Größenphantasien trotz Atomtodgefahren gegeneinander.
Wogegen richten sich die hernach vereinigten Größenphantasien? Man wird ja noch fragen dürfen.
Es gab in West und Ost dem Kalten Krieg wie den Atomkriegsrüstungen widerstehende Menschen, gegen die das Frankfurter Kapitalzentralorgan nur Hohn und Haß abzusondern hatte. Spätling Schirrmacher drückte damals noch die Schulbank und hat heute leicht phantasieren.
Der konservative Holthusen lehnte nach dem Krieg die Aufnahme Ernst Jüngers in die neue westdeutsche Akademie aus Imagegründen ab, wissend, daß der Nietzsche-Adept 1933 den angebotenen Eintritt in die Dichterakademie respektablerweise verweigert hatte. So versammeln die deutschen Akademien jeweils Zeitgeistgenerationen, damit die Nachfolgenden Grund für Generationshahnenkämpfe finden. An der Spitze immer die flinken Hauptleute mit dem Degen aus Papier.
Im Rückblick erscheint jede Akademie als Operette, die Sänger treten aber als Opernhelden auf. Prolog im Himmel nannte Schirrmacher es, wenn Gottfried Benn 1949 in einem Anfall von Ehrlichkeit meinte, alle guten Schriftsteller seien jetzt im Osten, keiner im Westen. Ein Professor Hosaens hatte eben für die CDU die Gründung einer neuen West-Akademie beantragt, um »Europa gegen Asien zu verteidigen.« Das ist inzwischen gelungen, doch welchen Begriff hat Schirrmacher vom Himmel? Es ist wohl mehr ein Epilog in der Hölle gewesen.
Ernst Jünger aber, der 1933 nicht akademisch sein wollte und nach dem Krieg nicht sein durfte, rehabilitierte sich als Überhundertjähriger tapfer. Am 9. August 1997 servierte Ernst Jüngers Frankfurter Hauszeitung einen Vorabdruck aus dessen Buch Siebzig verweht V, wo es heißt: »Wenn ich als Anarch auf mein Verhalten im Dritten Reich zurückblicke, fällt mir ein, daß ich nie mit Heil Hitler gegrüßt habe.« Ja, diese tollkühnen aufrechten Anarchen! Wir verstehen: Ins Widerstandsmuseum mit dem tapferen Helden zweier Weltkriege, neben General Heusinger, der beim Attentat am 20. Juli 1944 neben seinem Führer am Tisch in der Wolfsschanze aufrecht stehend leicht verletzt wurde und später von Minister Rühe als Bundeswehrgeneral und braver Mann gewürdigt worden ist. Da sind noch Plätze frei, auch für Stephan Hermlin, der am 13. Dezember 1989 angesichts der Mauerbruchfolgen tapfer erklärte: »Aber ich bin nicht bereit, vor der Gewalt zu kapitulieren. Ich bin nicht bereit, der Gewalt Gewaltlosigkeit entgegenzusetzen.« (Beifall und Widerspruch von Kurt Masur) Die zuständigen NVA-Generäle freilich kapitulierten und folgten Hermlin klugerweise nicht.
Beim Lesen der vielerlei Geheimprotokolle von allerlei Akademien wird leuchtend klar, welche heroischen Worte deutsche Geistesriesen selbst in allerdunkelsten Zeiten finden. Hitlers und Stalins promovierte Kinder erweisen sich als Nietzsches Urenkel. In aller Unschuld und Wortgewalt. »Die intellektuelle Verfassung des vereinigten Landes zu verändern«, bereiteten sich Walser und Schirrmacher anno 1998 in brüderlichen Telefonaten auf den gemeinsamen Auftritt in der Paulskirche vor. Der eine hatte sich den Großen Preis erschwafelt, der andere lobredete ihn hoch, daß den versammelten Geistesgeschäftsriesen im orkanbrausenden stehenden Beifall der letzte Hauch von Intellekt abhanden kam und nur ein einzelner Bubis stumm sitzen blieb.
Von der Verleihung des Buchhändlerfriedenspreises anno 1998 bis zum Tod eines Kritikers im Jahre 2002 ist es nur ein kurzer Schritt im Programm der Skandalplanung. Nitrofen stammt aus Mecklenburg-Vorpommern, Literatur aus dem Hause Suhrkamp – tödlich kann beides sein. Verlassen nun die Ratten den sinkenden Walser? Nein, sie betreten ihn. Der verbal mit Mord bedrohte Kritiker droht possierlich zurück. Totgewünschte leben länger. Nur ein paar Divisionen nitrofengefütterter Hühner müssen sterben, ohne gefressen zu werden. Das Feuilleton spuckt Kultur aus. Frankfurter Rundschau gegen, Süddeutsche Zeitung für Walser, Zeit für und gegen, Welt plus Bild sowieso. Jens, Giordano, Kunert, Karasek erschreckt Laut gebend. Das Fernsehen rülpst Kräftig oder zart und weiß nicht so recht. Möllemann erteilt Walser Ratschläge fürs Fallschirmöffnen. Friedman ist contra. Unseld fällt aus wegen Krankheit. Enzensberger will Walser gar nicht erst lesen, hatte Saddam Hussein schon zehn Jahre früher zu Hitler II. ernannt und erwartet US-Vollzug, die Börne-Taler gibt’s vorneweg.
Endlich haben alle den erwünschten Skandal. Suhrkamp-Autor Handke sitzt schon überm Gegen-Buch. Denn der nächste Krieg kommt bestimmt.
Das Feuilleton bereitet ihn vor und will es dann nicht gewesen sein. Das ist Kultur, »Material« eben, das »die intellektuelle Verfassung des vereinigten Landes zu verändern verspricht.«
Im schweigenden Staunen stehen die anvereinigten Ostdeutschen am Wegesrand der brausenden Veränderung, der sie nun in Freiheit angeschlossen sind. Als depperte Antifaschisten wurden sie beschimpft, und nun droht Antisemitismus? Normalität, Genossinnen und Genossen, will gelernt sein. Und das alles, weil Walsers Frau Mama, die Gastwirtin, unter den Folgen des Versailler Vertrages in wirtschaftliche Nöte geriet und der NSDAP beitrat. Was sagt unser ungefärbter Herr Bundeskanzler jetzt zu alldem? Vielleicht sollte er Walser und Möllemann sowie Reich-Ranicki, Friedman, Schirrmacher in seine Kampa einbinden, bevor ihm der Stoiberer zuvorkommt. Die Normalität von 2002 verlangt es zwingend.
Antisemitismus ist nötig, um ihn zu bekämpfen, weil er das Geschäft erst verdirbt, dann vergoldet. Das liebe Wahlvolk muß abgelenkt und unterhalten werden, damit die nächsten Bomben und Raketen bald ungestört ihre himmlischen Klänge ertönen lassen können. Das schafft Arbeitsplätze. Zumindest für die muntere Feuilletonfamilie. Wann kommt die heiße Reality-Show mit rundgerechnet hundert Folgen ins Fernsehen? Aus Kreisen der israelischen Friedensbewegung hört man die Klage, sie fühle sich durch den jüdischen Zentralrat in Deutschland nicht vertreten, weil die Herren Spiegel (SPD) und Friedman (CDU + tv) Scharonisten seien. Nun, die deutsche Friedensbewegung fühlt sich durch die FAZ auch nicht gerade repräsentiert.
Vielleicht sollten wir einen Rat der jüdischen Alten einberufen, von Adorno, Horkheimer, Benjamin bis Stefan und Arnold Zweig, Toller, nicht zu vergessen Einstein, Freud, Tucholsky, Jean Amery, Herbert und Ludwig Marcuse, Alfred Kantorowicz, Polgar, Bloch, Kafka, Seghers, Mehring, Mayer, Heym, Feuchtwanger, Friedrich Wolf … (Ende aus Platzgründen). Wetten, daß diese Runde der Alten vom Zentralrat als antisemitisch, von der FAZ als jüdisch-bolschewistisch (Fest/Nolte) und von Walser als zu großkritisch befehdet würde? Schrittmacher Schirrmacher aber lenkte allen Streit in sein Feuilleton, denn das Blatt verliert an Auflage. Selbst das schönste Kapital wird schwach, wenn die Kurse ewig sinken.
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