von Wolfgang Engler und Wolfgang Kil
»Das Konzept einer Angleichung mittels nachholender Modernisierung, die Vorstellung eines Ab-, Um- und Wiederaufbauszenarios, das seinen Optimismus aus dem Vorbild des westdeutschen ›Wirtschaftswunders‹ der fünfziger Jahre speiste, ist praktisch gescheitert.« »Bis heute wollen die Begriffe Zukunft und Osten nicht recht zueinander passen.« Wolfgang Thierse: Zukunft Ost. Perspektiven für Ostdeutschland und die Mitte Europas, Berlin 2001
Diese Zitate treffen den Kern der ostdeutschen Dinge; das erste beschreibt den Aufbruch aus der Nische in die Sackgasse, das zweite benennt die Schwierigkeit, aus der Sackgasse herauszufinden.
Mangels überzeugender eigener Konzepte war der Osten Deutschlands im Umbruch der Jahre 1989/90 dazu bestimmt, den Westen zu kopieren. »Keine Experimente!« hieß die Formel, auf die sich die Eliten der alten Bundesrepublik mit der Mehrheit der Ostdeutschen verständigten, nachdem die anfängliche Begeisterung abgeklungen und die gesamte Dimension der Probleme sichtbar geworden war.
Mitte der neunziger Jahre geriet das Modell der »nachholenden« beziehungsweise »nachahmenden Entwicklung« in die Krise; wenig später wurde sein Scheitern offenkundig. Die Wirtschaft wuchs langsamer, die Arbeitslosigkeit schneller als im Westen, die Menschen verließen in großer Zahl das Land, und soziale wie regionale Kontraste sprangen stärker denn je ins Auge. Die innerdeutsche Ost-West-Differenz begann sich im Osten zu reproduzieren, und zwar als schroffer, unvermittelter Gegensatz von Modernisierung und Unterentwicklung.
Für den Westen eine Last, für Osteuropa trotz manch neidvoller Blicke eine Mahnung, droht Ostdeutschland innerlich zu zerklüften und in weiten Teilen in dauerhafte Rückständigkeit abzusinken. Den Absturz abzuwenden, gibt es viele Pläne, aber bis heute keinen Plan.
Die deprimierende Bilanz verdeckt nur allzu oft das Originelle, Neuartige der Entwicklung. Im Unterschied zu den Arbeitnehmergesellschaften des Westens, die einen mehrere Jahrzehnte umspannenden Anpassungsprozeß durchliefen, stolperten die Ostdeutschen beinahe übergangslos von der Etappe an die Front der globalisierten Weltgesellschaft.
Viele der gravierendsten Probleme, mit denen die industriell fortgeschrittensten Gesellschaften des Westens ringen – Lösung der Unternehmen von ihrem Standort, Arbeitslosigkeit infolge hoher Produktivität, Finanznot der Kommunen, drohender kultureller Kahlschlag der Städte und Gemeinden, Bevölkerungsrückgang, Überalterung, Krise der kollektiven Versorgungssysteme –, harren auch im Osten Deutschlands einer Lösung.
Nur verbinden sie sich hier, und darin liegt die Brisanz, mit den Folgen systematischer Deindustrialisierung, mit massiver Abwanderung, mit bereits einsetzendem Städtesterben und fremdbestimmten Wirtschafts- und Finanzkreisläufen zu einem ganz eigenartigen »Gemisch«.
An dieser präzedenzlosen Lage prallen alle Versuche ab, Problemdefinitionen und -lösungen aus dem Westen einfach nur zu übernehmen. Im Gegenteil: Da sich die Probleme im Osten schärfer und unabweisbarer stellen, müssen sie hier auch zuerst in Angriff genommen werden. Wenn in diesem Zusammenhang überhaupt von Übertragung die Rede sein kann, dann im umgekehrter Richtung: von Ost nach West beziehungsweise in beide Richtungen, nach Westen und nach Osten – denn wie Ostdeutschland seine Probleme meistert, ist auch für Osteuropa von hoher Relevanz.
Gerade aufgrund seiner Sonderlage und Sonderentwicklung ist Ostdeutschland dazu auserkoren, zu einem der größten Experimentierfelder der jüngeren Geschichte zu werden.
Der Abschied von der Arbeitsgesellschaft ist im westlichen Diskurs seit längerem en vogue, mal pragmatisch, mal utopisch akzentuiert; in Ostdeutschland ist das Phänomen mit Händen zu greifen. Die Industriemoderne verschwand weiträumig, ohne einen Erben zu finden. Zwischen einem Viertel und einem Drittel der arbeitsfähigen Ostdeutschen sind seit 1990 Jahr für Jahr ohne feste Stelle. Betroffen sind Menschen, die aus einer »arbeiterlichen Gesellschaft« stammen, für die Arbeit weit mehr war als nur ein Mittel der Existenzsicherung – Kern ihrer Selbstdefinition.
Steht derselbe Abschied, weniger dramatisch in seinem Verlauf, sich über größere Zeitspannen ausdehnend, dem Westen nicht auch bevor? Und wäre es da nicht an der Zeit zu untersuchen, wie Menschen damit fertig wurden, die am wenigsten darauf vorbereitet waren, sozial wie persönlich? Könnte es nicht sein, daß der Ausstieg aus dem »stahlharten Gehäuse« der rationalisierten Erwerbsarbeit am Ende leichter fällt als der Einstieg?
Die Kluft zwischen biologischem und sozialem Altern ist in kapitalistischen Gesellschaften heute nichts Ungewöhnliches, obwohl sie jüngeren Datums ist und sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg ernstlich auftat; dennoch gehört sie zum Kränkendsten, was Menschen erfahren können.
In Ostdeutschland war sie so gut wie unbekannt, hier vollzog sich das biologische Altern im selben Takt und oftmals schneller als das soziale. Nach 1990 änderte sich das ohne jede Vorbereitung; seither läuft der »moralische Verschleiß« dem physischen noch schneller davon als im Westen.
Wo, wenn nicht im Osten Deutschlands, ließen sich Reaktions- und Verarbeitungsformen, kollektive wie individuelle, dieser zu Recht als Schande empfundenen Degradierung besser untersuchen? Wo könnte man die Forderung, auf Mittel und Methoden der Abhilfe zu sinnen, eindringlicher spüren?
Im Zusammenhang beider Phänomene wäre etwas in der Art eines Weißbuches der ostdeutschen Kulturlandschaft notwendig; eine Untersuchung, die herausfindet, welche kulturellen Institutionen der alten DDR den Umbruch in welcher Form und Trägerschaft auch immer überlebt haben. Nur dadurch gewinnt man einen Überblick über Anknüpfungspunkte für eine andere Lebensorientierung als die auf Arbeit und soziales Nachgefragtsein fixierte.
Das Sterben der ostdeutschen Städte, besonders jener aus der Gründer- und Aufbruchszeit der DDR, überlagert nicht nur alle anderen Probleme der Region; es antizipiert zugleich die Problematik vieler westdeutscher und westeuoropäischer Kommunen. Sämtliche Komponenten, die dazu beitragen, vom »globalen Kapitalismus« über die Steuerpraxis bis hin zu Bevölkerungsschwund und Überalterung bündeln und verbinden sich hier mit spezifisch hinzukommenden Nöten zu einem wahrhaft exemplarischen Fall. Die Analyse hat begonnen, das kulturelle Fundament der Krise ist aber noch längst nicht freigelegt.
Die Diskurse über nachindustrielle Wirtschafts- und Gesellschaftsformen handeln zumeist von den Gewinnern des Umstellungsprozesses und rücken die Verlierer an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit. In Ostdeutschland machen sie sich nun von selbst bemerkbar – durch eine seit Jahren wieder anschwellende Abwanderung –; eine je individuell motivierte Entscheidung mit gesellschaftlich noch kaum abschätzbaren Konsequenzen. Eine andauernde, sich womöglich noch weiter verstärkende Migration der mobilen »Überflüssigen« aus dem Osten in die noch Entwicklungsträchtigen High-Tech-Regionen West- und Süddeutschlands könnte bereits in naher Zukunft zur Auflassung ganzer Stadtteile oder zur gezielten Absiedelung weiter Landstriche führen.
Wegen dieser gravierenden Auswirkungen, und weil im Grunde niemand weiß, wohin diese Reise einer von produktiver Arbeit weithin abgeschnittenen Gesellschaft geht, bedarf der dramatische Veränderungsprozeß einer sorgfältigen Begleitung. Um die massenhafte persönliche Verunsicherung aufzufangen, sind vor allem kulturelle Strategien gefragt – Entschleunigung, Entdichtung, Verkleinerung, Vorläufigkeit, Abschied.
Dem notwendigen Leitbildwandel stand bislang entgegen, daß auf stetes Wachstum gegründete Gesellschaften Schrumpfungs- beziehungsweise Rückzugsmodelle geradezu tabuisieren. Doch ohne eine entschiedene »Umwertung der Werte«, jener vergleichbar, die am Anfang des Industriezeitalters stand, wird man sein sich abzeichnendes Ende weder persönlich noch gemeinschaftlich bewältigen können.
Kulturelle Strategien müssen über die Analyse des Vorhandenen hinausgreifen. Um in der Enge der wenigen und recht schmalen Alternativen noch Luft für eigenes Handeln zu gewinnen, müssen Freiräume, Gewinnoptionen und Sinnhorizonte abgesteckt werden. Die unter jungen Leuten im Westen bereits abfällig als »Dunkeldeutschland« apostrophierte Region benötigt nichts dringender als ein ermutigendes Selbstbild.
Darum ist es gar nicht so schlecht bestellt. Im Maße, wie westliches Expertentum vor den im Osten anstehenden Problemen zunehmend versagt, wächst unter ostdeutschen Akteuren zusehends das Vertrauen in die eigenen Urteilsfähigkeit und Kompetenz. Eigenständige Lösungsansätze jenseits »gesicherter« Denk- und Verhaltensroutinen sind angesichts so vieler Fälle von Aussichtslosigkeit schlicht überlebensnotwendig. Wenn es kein Zurück in die wärmende Vertrautheit gibt, bleibt nur der Sprung nach vorn, der den Ausnahmezustand zu seinen eigenen Bedingungen normalisiert.
Die diversen Krisensymptome des Ostens dürfen nicht länger als Handicaps – sie müssen als Herausforderung für unternehmungs- und abenteuerlustige Menschen mit Mut und Phantasie begriffen werden.
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