Des Blättchens 5. Jahrgang (V), Berlin, 21. Januar 2002, Heft 2

Hinter den Kulissen der „Tango-Krise“

von Arndt Hopfmann

Das „ewige Schwellenland“ Argentinien – das lange Zeit als eines der reichsten Länder der Welt galt und dessen Bevölkerung noch vor einhundert Jahren einen durchschnittlichen Lebensstandard hatte, der weit über dem im damaligen Japan lag – wurde in den letzten Wochen erneut in eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe ungeahnten Ausmaßes gestürzt. Experten schätzen inzwischen, da die Überwindung der weihnachtlichen Tango-Krise, in der binnen dreizehn Tagen vier Präsidenten verschlissen wurden, ein ganzes entbehrungsreiches Jahrzehnt erfordern wird. Genaugenommen geht es allerdings gar nicht um die Überwindung der Folgen jener dreizehn Tage, die Argentinien erschütterten, sondern um die Beseitigung der Trümmer eines verfehlten neoliberalen Wirtschaftsmodells, das unter der Präsidentschaft von Carlos Menem Anfang der neunziger Jahre auf Empfehlung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank entworfen und ins Werk gesetzt wurde.
Glaubt man jedoch den Unschuldslämmern von IWF und Weltbank, deren ansonsten stets vorlautes Gemecker angesichts der dramatischen Ereignisse allerdings verdächtig schnell verstummt ist, dann hat Argentinien einfach nur Pech gehabt – eine unheilvolle Abfolge untalentierter, korrupter und nepotistischer Herrscher hat das Land entweder absichtsvoll ruiniert oder einfach alles falsch gemacht.
Tatsächlich war das “nationale Wirtschaftssystem” Argentiniens unter der Präsidentschaft von Ral Alfonsin Ende der achtziger Jahre in eine schwere Finanzkrise geraten. Angesichts einer Hyperinflation von über 7000 Prozent pro Jahr schien das Land reif für ein von neoliberaler Doktrin inspiriertes Stabilisierungsprogramm. Die Kernelemente der vom Harvard-Absolventen Domingo Cavallo entworfenen marktradikalen Wirtschaftsstrategie waren denn auch die üblichen, die von den internationalen Finanzinstitutionen allerorten und unter allen Umständen empfohlen werden: Fixierung des Wechselkurses, um die Inflation zu beenden, Privatisierung der Staatsunternehmen, um den Haushalt zu sanieren, und Liberalisierung des Kapitalverkehrs, um ausländische Investoren anzulocken.
Per Gesetz wurde folglich der argentinische Peso im Verhältnis 1 : 1 an den US-Dollar gebunden, wodurch die ohnehin bereits weit vorangeschrittene Dollarisierung der Wirtschaft einen weiteren Schub erhielt. Infolge der gesetzlichen Verordnung eines festen Wechselkursankers wurde die Zentralbank faktisch handlungsunfähig, was seinen schlagenden Ausdruck darin fand, daß sich die Geschäftsbanken fortan durch Verschuldung in US-Dollar im Ausland und bei einheimischen Anlegern refinanzierten. Zudem entfachte die forcierte Privatisierung der Staatsunternehmen lediglich ein Strohfeuer. Zwar ging die Übernahme staatlicher Betriebe durch ausländische Investoren – zu Schleuderpreisen – zunächst mit einem bemerkenswerten Kapitalzufluß einher, der die Wachstumsraten zwischen 1991 und 1994 durchschnittlich auf stolze neun Prozent pro Jahr emporschnellen ließ. Aber der langfristige Effekt derartiger Auslandsinvestitionen auf die Einkommensbildung erwies sich als eher gering, weil der Zufluß solcher Übernahme-Investitionen seiner Natur nach zeitlich begrenzt ist. Was anfänglich wie ein kleines Wirtschaftswunder aussah, verendete spätestens mit den Auswirkungen der mexikanischen „Tequila-Krise“ Ende 1994.
Nachdem der Rauch des Privatisierungsstrohfeuers verzogen war, blieb eine gewaltige, von sinkenden Staatseinnahmen und zunehmenden Zinszahlungen verschärfte Dollarverschuldung zurück, die bis November 2001 auf über 140 Milliarden US-Dollar anwuchs. Zwar wurde noch versucht, über die Senkung der Renten und der Einkommen im öffentlichen Dienst um rund zwanzig Prozent der drohenden Zahlungsunfähigkeit entgegenzusteuern, aber mit der Aufkündigung des IWF-Kreditprogramms im November waren schließlich alle Messen gesungen.
Als die Leidensfähigkeit der verarmten Bevölkerungsschichten erschöpft war, kam der Sturm auf die Supermärkte einem Sturm auf die Casa Rosada, dem Präsidentenpalast, gleich. Diese Revolte wurde Lautstark vom Geschepper der leeren Kochtöpfe des Mittelstandes begleitet, der jetzt um den Bestand seiner Dollar-Vermögen fürchtete.
Nachdem die Katastrophe eingetreten ist, kehrt die verarmte Republik am Rio de la Plata dem neoliberalen Wirtschaftsmodell den Rücken und hofft, mit dem “neuen wirtschaftlichen und sozialen Modell” von Wirtschaftsminister Jorge Lemes Lenicov den Schaden in Grenzen zu halten. Der Kommentar aus Washington beschränkte sich – bemerkenswerterweise – auf die schon fast flehentliche Bitte, nun doch nicht etwa die doch so erfolgreiche Marktwirtschaft insgesamt über Bord zu werfen.
Diese Befürchtungen dürften sich nach dem, was vom “neuen Modell” bisher bekannt wurde, als unbegründet erweisen. Vielmehr deutet die angekündigte Umstellung der Rechnungen für Mieten, Strom, Gas, Wasser und Telefon auf US-Dollar darauf hin, daß Argentinien auf dem Weg ist, eine “normale” dollarisierte Entwicklungsländerökonomie zu werden – mit der typischen Zweiteilung der Transaktionen in Peso-Zahlungen für die tausend Dinge des täglichen Bedarfs und Dollarverpflichtungen für alle längerfristigen Verträge, denn die Lieferanten von Versorgungsleistungen können schließlich nur so den Wert ihrer Forderungen sichern. Eine weitere Konsequenz ist ein massiver Fall der Realeinkommen jener, deren Arbeit mit Pesos bezahlt wird.
Mit dem “Aufrücken” vom Schwellenland zum Industrieland wird es auf diesem Wege mit Sicherheit nichts. Die Lage bleibt auch auf mittlere Sicht verzweifelt. Das einzige, was zumindest einige Erleichterung schaffen könnte, wäre eine – wenigstens partielle – sofortige Schuldenstreichung. Doch die, die das ermöglichen könnten, sitzen bei IWF und Weltbank in Washington …