Des Blättchens 4. Jahrgang (IV), Berlin, 20. August 2001, Heft 17

Im Mauerschatten

von Thomas Falkner

Noch einmal ist das Gespenst des Kalten Krieges in diesen Tagen durch Berlin und die deutschen Lande gezogen, begleitet vom ätzenden Pulvergeruch des heißen ideologischen Krieges. Flaggen auf Halbmast, Schuldzuweisungen und Entschuldigungsverweigerungen, betroffene und nachdenkliche Menschen vor großformatigen Schwarz-Weiß-Fotos, Sonntagsreden und protokollarische Händel zwischen DDR-Opfern, den neuen Regierenden in Berlin und der noch nicht regierenden PDS, der harte Streit zwischen politischer Tugend und politischem Pragmatismus – das war das politische Berlin in diesen Tagen. Grell, laut, schreiend – das war die offizielle Stimmung. Dazu eine Umfrage: Nur für zehn Prozent im Osten und drei Prozent im Westen zählt der Mauerbau heute noch zu den erinnernswerten Ereignissen. Das Überhitzte und das Unterkühlte – sie sind die beiden Seiten eines politischen Bimetallstreifens. Wohin biegt er sich, wo entladen sich die erzeugten Ströme?
Noch immer hat man den Eindruck, daß das Wirkliche noch nicht ganz an die Oberfläche gekommen ist. Im Schatten der Mauer sind nicht nur Menschen zu Tode gekommen, sondern ist auch Menschlichkeit verkrüppelt. Die Geschichte der Mauer ist auch eine Geschichte der Pervertierung von Politik. »Die Krisenbewältigung im Nuklearzeitalter folgte keiner Moral«, bilanzierte Reinhard Mutz Anfang August. Götz Aly präzisierte: »Insgesamt ließen die Siegermächte von nun an den innerdeutschen Querelen, Beschimpfungen und Gewaltakten ihren Lauf. Ohne so etwas zu beabsichtigen, gaben sie den Deutschen damit die Gelegenheit, sich aneinander abzuarbeiten, ihre nach der Niederlage von 1945 noch immer aufgestauten aggressiven Energien in einer für Europa einigermaßen erträglichen Form zu absorbieren.« Und Wilfriede Otto präsentierte das Protokoll des Chrustschow-Kennedy-Gipfels vom Juni 1961 unter dem Titel »Der Mauerbau – ein einvernehmliche Krise«.
Das blutige Symbol der deutschen Teilung, der antifaschistische Schutzwall, die sensible Trennlinie der beiden Militärblöcke, die Schicksalslinie von Krieg und Frieden, die Scheidelinie zwischen der DDR und der Welt, das Symbol der Abrechnung mit der DDR (ihrer Führung wie ihren Mitläufern) – Ergebnis einer »einvernehmlichen Krise«?! Die Spaltung der Deutschen, deren Wunden gerade in Berlin am tiefsten waren, Ergebnis eines Einvernehmens irgendwo oben? Familiäre Trennung, entwürdigende Passierscheinbeantragungen, filzender DDR-Zoll, tote Flüchtlinge und tote Grenzsoldaten an der Mauer, Propagandakrieg und Schallplattenschmuggel – alles nur, weil es Einvernehmen darüber irgendwo oben gab?
Erst nach dem Fall der Mauer wurde klar, wie stark und wie anhaltend sie die Deutschen in Ost und West geteilt hatte. Auch die ernsten Schwierigkeiten mit der »inneren Einheit« seit 1989/90 – letztlich mit Resultat eines Einvernehmens da oben?
Ja, sicher. Nicht nur, aber auch. Das ist etwas, was ein »nationales Trauma« ausmacht. Das Einvernehmen in der Krise, aber auch das Einvernehmen der Siegermächte über die Teilung Europas, von Jalta über Potsdam, die Berlin-Krise 1948 und die heißen fünfziger Jahre des Kalten Krieges, hat tief in die Geschicke der Deutschen eingegriffen – individuell wie gesellschaftlich. Von der zu spät gekommenen Nation, der zu spät gekommenen Großmacht haben sich die Deutschen zur Hybris der Weltherrschaft und mit zwei Weltkriegen und dem Holocaust zu ernstesten Bedrohung der Zivilisation entwickelt, die das 20. Jahrhundert hervorbrachte – um hernach zum Instrument (gelegentlich auch zum Spielball) der Weltpolitik/der Weltmächte zu werden.
Mauer und Teilung sind keine schicksalhaften nationalen Strafen, sondern Ergebnis dessen, wie sich die Deutschen über 150 Jahre in die Welt eingebracht haben.
Es gibt keine anonyme Politik. Was ein Volk mitträgt oder auch nur duldet, dessen Folgen fallen auf die einzelnen Menschen zurück (und sei es in der nächsten Generation). Das haben die Menschen in den Bombenkellern und die getrennten Familien, die ummauerten Westberliner genauso wie die eingemauerten Ostdeutschen erfahren. Es gibt für niemanden wirklich die Möglichkeit, aus der geschichtlichen, aus der politischen Verantwortung zu fliehen. Zuschauen gilt nicht. Das ist heute nicht minder wichtig: rechtsradikale Gewalt, nationalistisch gefärbte Leitkultur-Debatten, Grenzregime an der Oder, »Politikverdrossenheit« .
Gesellschaften müssen sich in die Lage versetzen, ihre Geschicke selbst in der Hand zu halten – in Verantwortung und mit Augenmaß. Hier haben die Deutschen großen Nachholebedarf. Ihre nationale Reputation haben sie zu lange aus Machtpolitik und Vormacht-Konstellationen bezogen. Erst nach den Niederlagen der nationalen Bewegung von unten im 19. Jahrhundert erfolgt die Reichseinigung (»Klein-Deutschland«) von oben – mit Gewalt nach außen behaftet.
Deutschland unterstellte sich im Kaiserreich der preußischen Vormacht. In der Weimarer Republik – einer Demokratie, die ungeachtet des Ausgangs der November-Revolution eine Demokratie mit sozialen Ansprüchen und dem Kaiserreich weit überlegen war – definierten sich die Deutschen zu oft und zu stark auf die alten Machtansprüche und die alten Vormächte hin und damit spiegelbildlich gegen die neuen Kräfteverhältnisse in Europa und der Welt. Der Nationalsozialismus wendete dies wieder nach außen – wieder traten Weltmachtstreben und Herrenmenschentum hervor. Nach dem Zusammenbruch und der Befreiung vom Faschismus begaben sich die Deutschen willig unter die Fittiche der Sieger: Sie nahmen von deren Seite Exkulpierung entgegen und entrichteten den gewünschten Preis: ideologische Folgsamkeit und politische Gefügigkeit, je nach Wohnort und Besatzungsmacht. Jene, die authentisch eigene Lehren gezogen hatten und in ihrem Lebensumfeld umsetzen wollten, wurden vereinnahmt oder fanden kein wirklich aufgeschlossenes und pluralistisches Umfeld vor: »Geh doch nach drüben!«, Ausbürgerung, Fluchtwellen, Vertreibung per KPD- oder FDJ-Verbot …
Nur wenige Jahre nach Kriegsende erhob ausgerechnet der NS-Verfolgte Ernst Reuter die ehemalige preußische und Nazi-Hauptstadt Berlin zum Symbol der Freiheit und ruft vor hunderttausenden Berlinern aus: »Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!«
Und die Hauptstadt der DDR umgab sich mit einem »antifaschistischen Schutzwall« und rüstete ihre Bürgerinnen spiegelbildlich ebenfalls mit der Überzeugung aus, die »guten Deutschen« zu sein – unter den Fittichen der Siegermacht mit den größten Opfern, die auch den übrigen für die DDR-Bürger erreichbaren geographischen Raum unter die Fittiche ihrer Vormacht und Ideologie genommen hatte.
Die Deutschen haben im Schatten der Mauer tief verinnerlicht, daß sie die guten Deutschen sind, weil sie nicht die anderen Deutschen – die jenseits der Mauer – sind. Dieses Muster existiert auch zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer noch. So lange es funktioniert, haben die Deutschen noch nicht zu sich selber gefunden. Und das ist das Beunruhigende.