Des Blättchens 3. Jahrgang (III), Berlin, 15. Mai 2000, Heft 10

Welcome to Nietzscheland

von Jens-F. Dwars

Wir haben den Nietzsche neu entwickelt«, ließen die Weimarer Büstenhändler am Ende des Goethejahres wissen. Sie hielten ihr Versprechen und präsentieren den Schnauzbärtigen frei nach Klinger in drei Formaten. Die Stiftung Weimarer Klassik hat weniger Glück. Zwar gab sie eine Schau der Superlative in Auftrag, die schier alles zeigen soll, was vom Leben und Werk des Philosophen greifbar scheint, doch will sie niemandem so recht gefallen. Dabei haben sich die Ausstellungsmacher redlich bemüht, 1000 Exponate zusammenzutragen. Präsentiert werden sie auf drei Etagen des Schiller-Museums. Allein das wäre einen Eintrag ins Guinness-Buch wert. Dennoch nörgeln die Kritiker fast aller großen Zeitungen, die Überfülle erschlage den Betrachter.
In der Tat ist die erste Qualität dieser Exposition ihre Quantität. Obwohl man durchaus noch ein Ordnungsprinzip erkennen kann: Die Unmenge an Fotos, Schriftstücken, Büchern und Alltagsgegenständen verteilt sich auf neun »Abteile«. Abteile, nicht Abteilungen. Statt der oft willkürlichen Schubfach-Ordnung von Bibliotheken oder Werkausgaben wird die Logik von Reisezügen bevorzugt: Die Abteile zeigen, was der Reisende auf seiner Fahrt mitnimmt, vermischt mit den Utensilien anderer. So gibt sich Nietzsches Leben als Reise im doppelten Wortsinn zu erkennen – als metaphorischer Weg zwischen Geburt und Tod wie auch in seiner unmittelbar gegenständlichen Bedeutung als unstete Wanderschaft eines von rasendem Kopfschmerz getriebenen Menschen, der zwischen Naumburg, Italien und der Schweiz nach dem ihm erträglichsten Klima sucht. Daher auch das riesige Foto vom Turiner Bahnhof, daher die Verteilung der Exponate auf Sperrholzkisten wie grobes Reisegepäck und daher schließlich der Titel des Ganzen: Wann ist der Gotthardtunnel fertig?
Mehroder Vieldeutigkeit ist das Prinzip dieser Inszenierung. Insofern folgt sie nicht nur zeitlich, sondern auch strukturell aufs Genaueste der Show im neuen Goethe-Museum. Das muß niemanden verwundern, da die Auftraggeber die gleichen sind. Aufmerken läßt jedoch, daß dieselben Zeitungen, die vor einem Jahr noch des Lobes voll waren über das wiedereröffnete Haus am Frauenplan, sich nun fragen, inwieweit ein solches Sammelsurium das Werk eines Denkers zu erhellen vermag. Was hat der Schnittmusterbogen von »Fritzens Sommerhose« mit Nietzsches Philosophie zu tun? Kommt seiner Anschauungsweise nur einen Deut näher, wer das Modell eines syphilitisch infizierten Penis mit einer Mischung aus Ekel und Faszination betrachtet?
Daß Leute, die sich jahrelang an eben solchen Spielereien ergötzt haben, nun langsam beginnen, sie in Frage zu stellen, könnte das Verdienst der Ausstellung werden. Wenn der Wille wiedererweckt würde, über Alternativen nachzudenken zu diesem totalen Amüsement, das uns längst zu Tode langweilt. Denn das ist ja die fatale Dialektik all dieser klugen Kuriositätenkabinette: Ihre mehr oder minder witzig arrangierten Einzelstücke erheitern für den Augenblick und sind schon vergessen, bevor man sich zum Ausgang wendet. Vielleicht, darf man hoffen, fällt manchem Besucher danach auf der Straße wieder ein, daß Nietzsches Gedanken, neben denen eines Marx, die größte Ausstrahlungskraft auf das 20. Jahrhundert besaßen und mit ihrer visionären Dichte noch immer zu den anregendsten der Gegenwart gehören.
Freilich sind diese Gedanken, wie die Marxschen, unbequem und braucht es, um sie zu visualisieren, ein paar Ideen mehr als nur den Fetischglanz schillernder Dinge. Denkbar wäre etwa eine Ausstellung im einstigen Nietzsche-Archiv, der hoch über der Stadt gelegenen Villa Silberblick, zum Thema »Das Vergehen der Herrschaft. Mit Goethe und Nietzsche gesehen«. Hier, jenseits des Touristentrubels, dem Glockenturm von Buchenwald schräg gegenüber, könnte man sich auf die Frage einlassen, ob die Nähe von Klassik und KZ, das gern zitierte Doppelgesicht Weimars, mehr meint als eine räumliche Zufälligkeit. Ob die Barbarei, die wir als Unmenschlichkeit von uns weisen, nicht doch jeder Hochkultur zugrunde liegt, wie Nietzsche nicht müde wurde, einer sich selbst belügenden Humanität ins Stammbuch zu schreiben, und wie Goethe es vor ihm im »Helena«-Akt seines Faust II offenbarte?
Das Vergehen der traditionellen Herrschaft wäre als Ausbeutung ganzer Völkerschaften von der Sklaverei bis zur christlichen Kolonialisierung der Welt möglichst sinnlich zu veranschaulichen, die Nietzsche und Goethe nicht moralisierend verdammten, sondern als Transformierung von Leibeskräften in Kultur kritisch zu begreifen suchten. Ihr Problem würde am Ende nicht die Willkür böser einzelner sein, sondern das Verschwinden des kultiviert Einzelnen, des Typus sich selbst beherrschender, unverkennbar eigenwilliger Individuen, im massenhaft gleichgültigen Streben aller nach dem alltäglichen Glück. Zivilisation gäbe sich als sublimierte Barbarei zu erkennen, die durch funktionale Ordnung das Leben maschinalisiert, jegliche Regung austauschbar erscheinen läßt und die Energien der Erde mit wachsender Geschwindigkeit aufsaugt. So könnte die schöne Jugendstil-Villa als Pendant zum häßlichen Lager auf dem Ettersberg wirken, könnten die unscheinbaren, die nicht mehr empfundenen Opfer des Fortschritts, der Selbstausbeutung, einer mit und durch uns sich ereignenden Umwertung der Werte, spürbar werden und geradezu instinktiv zur Suche nach Auswegen drängen, die weder in der Wahl zwischen Demokratie und Diktatur auf- noch im Rummel der Sensationen untergehen, dem Kulturersatz eines knechtseligen Alltags.
Eine diskutable Idee, finden Sie? Ich habe sie, neben acht weiteren Vorschlägen, im Februar 1998 der Kulturstadt GmbH unterbreitet. Kurz darauf bat mich Herr Kauffmann um Verständnis, daß er das eigene Programm schon reduzieren müsse, jedoch hoffe, ich würde von der Stiftung Weimarer Klassik hören, an die er die Projekte weitergab. Was ich hörte, war Schweigen. Was ich sah, eine Ausstellung, deren Macher erklären, daß man Philosophie nicht darstellen könne.