von Boris Kagarlitzki, Moskau
Putin ist eine Erfindung der Polittechnologen. Das Land brauchte einen positiven Helden, und sie haben ihn präsentiert. Der Held muß stark und von sich überzeugt sein. Denn in Rußland ist die Meinung verbreitet, das Land sei im Ergebnis der Reformen schwach geworden. In Wirklichkeit ist es natürlich nicht Schwäche, sondern Talentlosigkeit, die zu diesem Zustand geführt hat. Die Polittechnologen werden auch künftig alles verhindern, das dies ändern könnte – verlören sie doch ihren Auftraggeber.
Sie hatten die Meinungsumfragen sorgfältig analysiert. Die Gestalt des Führers wurde so geformt, daß sie den Erwartungen der Massen voll und ganz entspricht. Der neue Held mußte Entschlossenheit ausstrahlen, jung sein und für Ordnung eintreten. Bei den Älteren sollte er angenehme Erinnerungen an ihre Jugend in der Sowjetzeit wachrufen, und im gleichen Atemzug sollte er den Jüngeren klipp und klar erklären, daß es keine Rückkehr in die Vergangenheit geben werde. Er mußte eine stärkere Einmischung des Staates in die Belange der Wirtschaft versprechen – was der Stimmung des Volkes entspricht – und gleichzeitig die Orientierung an liberalen Werten betonen – darauf bestehen die ausländischen Geldgeber. Er mußte die Wiedergeburt der Armee und der Rüstungsindustrie auf sein Banner schreiben und einen kleinen siegreichen Krieg inszenieren, auch wenn für diesen das Geld draufginge, das die Rüstungsindustrie eigentlich benötigt, um überhaupt produzieren zu können.
Blieb nur ein Problem: Wer spielt die Hauptrolle? Stepaschin und Lebed haben es versucht und sind gescheitert. Nun ist Putin an der Reihe. Ob diese Entscheidung richtig war, ist offen. Denn Putin vergißt von Fall zu Fall das Drehbuch und fällt aus der Rolle, auch wenn er sich immer mehr in sie hineinlebt.
Das Szenario für die Übergabe der Macht, das sich die Analytiker im Kreml ausgedacht haben, weist Schwachstellen auf. Putins Kritiker haben bereits festgestellt, daß er widersprüchliche Versprechungen macht. Als positiver Held verspricht er allen das, was sie hören wollen. Man kann nicht gleichzeitig kämpfen und die Rüstungsindustrie entwickeln, man kann nicht die Diktatur des Gesetzes einklagen und gleichzeitig die Unantastbarkeit des durch und durch kriminell erworbenen Privateigentums der russischen Oligarchen erklären.
Es geht nicht um Demagogie, sondern darum, daß das, was die Leute in den Umfragen sagen, bei weitem nicht immer ihren wirklichen Interessen und Wünschen entspricht. Jeder Versuch, irgend etwas zu tun, wird nicht nur die Unzufriedenheit der sich als Opfer Fühlenden hervorrufen, sondern auch jener, die eigentlich entzückt sein müßten. Die einzige praktische Maßnahme bisher – ist der Krieg.
Doch an die Stelle von Begeisterung rückt unter den Russen immer mehr Unruhe über den Massenmord an der friedlichen Bevölkerung, über Filtrationslager und über Zinksärge. Auch in den »starken Ministerien« kommt Unmut auf: Weder eine normale Versorgung der Truppe noch eine effektive Durchführung von Kampfhandlungen sind möglich. Dabei hatte man im Kreml so sehr auf die Militärs gesetzt. Jetzt murren nicht nur die Pazifisten, auch die Militärs sind unzufrieden.
Unter den kleinen und mittleren Funktionsträgern in den Chefetagen der Wirtschaft und der Banken hingegen haben Putins Versprechungen Bewegung ausgelöst. Sie, die Anfang der neunziger Jahre zu Tausenden aus den Bezirksleitungen der KPdSU in die Wirtschaft wechselten, erlebten in der Perestroikazeit, wie das Sowjetsystem denunziert wurde. Nach dem Muster der Schwarz-Weiß-Malerei im sowjetischen Agitprop; lediglich die Vorzeichen wurden vertauscht. Unterdessen hat der offensichtliche Mißerfolg der neoliberalen Wirtschaft aber auch die Antworten der neuen Ideologen blamiert – ihre Schemata gehen jetzt zu Bruch.
Das mittlere Management spürt, daß seine Stunde gekommen ist. Angesichts der Hilflosigkeit der Unternehmer und der Unfähigkeit der Polittechnologen, neue ansprechende Bilder und Symbole hervorzubringen, breitet sich eine diffuse Sehnsucht nach der Sowjetzeit aus. Emotional wird sie zur »strategischen Reserve«, zum Rettungsanker. Rückkehr in die Vergangenheit verspricht von nun an Schutz, Stabilität und Berechenbarkeit. Der homo sovieticus feiert Wiederauferstehung.
In diesem Augenblick betritt der Diktator die Szene. Natürlich kann man die Vergangenheit nicht zurückholen. Eigentlich will das auch niemand. Die Flucht vor der Freiheit mündet in die Regenerierung der Sicherheit und der verlorengegangenen sozialen Beziehungen. Das hat Erich Fromm einst mit Blick auf den Faschismus analysiert. Seine Beschreibung trifft heute voll und ganz auf Rußland zu: Die Staatsmacht hat das Bedürfnis der Massen an Geborgenheit und Sicherheit erkannt und ist bereit, alles zu tun, einen entsprechenden Eindruck zu erwecken. Es geht um dieses Gefühl, um diesen Eindruck. Deshalb muß ein neuer Staat her, wird eine radikale Änderung im Hinblick auf Eliten und Strukturen benötigt.
Die Ablösung der sozialistischen Ideale durch patriotische Rhetorik ist weit fortgeschritten. Dadurch ist die Rückkehr zur »Sowjetischkeit« für die Besitzer des zusammengeraubten Eigentums kein unkalkulierbares Risiko. Der Patriotismus schützt sie vor jedem sozialistischen Experiment. Nicht zuletzt Sjuganow hat die linke Ideologie durch Großmachtpatriotismus ersetzt, dem es – im Unterschied zum Sowjetpatriotismus – allerdings an Inhalt fehlt. Eine Verwendung von sowjetischen Methoden zum Schutze des neuen russischen Kapitalismus ist vorstellbar geworden, auch wenn das Ergebnis miserabel sein wird. Der Held der Prognosen ist ein virtueller Held. Bis zu den Wahlen sollte Putin am besten überhaupt nichts tun. Und nach den Wahlen erst recht nichts. Es reicht, mit ernster Miene Beratungen abzuhalten oder den Journalisten zuzulächeln. Nur keine ruckartigen Bewegungen. Das Land wird weiter driften, und alle werden auf das Wunder hoffen.
Aus dem Russischen von Wladislaw Hedeler
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