Das Blättchen, 2. Jahrgang (II), Berlin, 15. November 1999, Heft 23

Kultursprung

von Thomas Falkner

Vor Jahren hat Gregor Gysi seine Partei mit der Aufforderung verunsichert, sich per »Kultursprung« auch im fremden, feindseligen Westen ansässig zu machen. Das traf nicht gerade die Sehnsüchte jener, die in und mit der PDS ihre Antwort auf das Scheitern der DDR und die rücksichtslos-zynische Überformung des Ostens durch West-Gescheite – auch linke! – lebten. Gleichwohl war man im Osten schon lange auf einem mühseligen, aber zielstrebigen Marsch durch die Institutionen – in Kommunalvertretungen und Parlamenten, in Vereinen und Initiativen. Gekommen waren die Institutionen aus dem Westen, dem Zielland des Kultursprunges, doch tummelten sich in ihnen zumeist Ostdeutsche – Lerneifrige und Anpassungswillige, Bockige und Schlitzohrige, Engagierte und Kreative. Hier begann die wirkliche Wandlung – zunächst derjenigen, die wie Gysi der Partei Gesicht und Stimme und vor allem Profil gaben, dann der Partei, schließlich mancher Ansichten in der Gesellschaft. Erst einmal im Osten, vielleicht allmählich auch im Westen.
Nichts verlief widerspruchsfrei. Jeder Wandel aktiviert die Widersacher – und macht sie weniger schlau, je weniger sie werden und je weniger sie erreichen. In und außerhalb der Partei. Vera Wollenberger und Angelika Barbe diffundierten mit ihrer Feindseligkeit gegenüber der PDS durch das deutsche Parteiensystem. Als nächstes werden sie wohl von der CDU geradewegs zu den Sozialisten übertreten – als letzte Chance, deren Einbindung in das politische und parlamentarische System noch zu verhindern.
Doch auch hier frißt sich der Wandel durch. Jeder Brisanz beraubt ist mittlerweile das parteiinterne Jugend-Verdikt von der Kommunalpolitik als »Einfallstor der Reaktion«. Keine Erschütterungen mehr, wenn große DDR-Namen in großer Sorge mahnend den Zeigefinger erheben. Heute werden »Zerreißproben« wegen der Frage ausgerufen, ob Australien neben dem Auftrag des UNO-Sicherheitsrates vor allem den Segen der deutschen Sozialisten braucht, um das Abschlachten von Menschen in Ost-Timor zu unterbinden – und finden dann gar nicht statt. Während der politische Teil der Nation erheitert und erlöst die Debatte um das Verhältnis zwischen CDU und PDS verfolgt, verzettelt sich der PDS-Vorstand in der Frage, ob ein führender PDS-Genosse der DKP die faktische Selbstauflösung nahelegen darf.
Derweil erfreut sich in Mecklenburg-Vorpommern die erste rot-rote Koalition erstaunlicher Stabilität und Lebenskraft – mancher in der PDS mag damit gar nicht so recht etwas anfangen. Doch an die Stelle einstiger Kontroversen um »Opponieren – Tolerieren – Koalieren« ist schlimmstenfalls hier und da ein behäbiges Naserümpfen getreten. Von Sachsen-Anhalt aus betreiben Sozialdemokraten und Sozialisten Stück für Stück die Wiedereinführung der Vermögenssteuer in Deutschland – und die PDS sieht gnädig darüber hinweg, wie sie es seit Jahren mit dem spannendsten und mittlerweile erfahrungsreichsten politischen Experimentierfeld der gesamten Republik tut. Der eigene Landesverband hat diesem Erfahrungsschatz einen ganzen programmatischen Landesparteitag gewidmet und eine einjährige Grundsatzdiskussion eingeleitet – die Mutterpartei, seit Januar offiziell in eine Programmdebatte eingestiegen, zeigt sich nicht sonderlich interessiert.
Wer aber ist die Partei, hatte einst Brecht gefragt und mit dem Finger auf den einzelnen, auf jedes Mitglied gezeigt. Und heute? Wer ist heute die Partei? Wer ist die PDS? Zunächst und vor allem sind es wieder einzelne – die Träger und Forcierer des Wandels in Gesellschaft und Partei. Gysi und Bisky – und die vielen Gysis und Biskys auf allen Ebenen. Das erhält die PDS aufrecht, das ermöglicht ihre Erfolge. Doch was sind diese Träger des Wandels – ein funktionierender sozialer Organismus oder nur eine Ansammlung politisch ähnlicher Individuen?
Für die PDS erweist sich etwas als bestimmend, das Vor- und Nachteil zugleich ist: Seit sie besteht, hat sie nie allein das sein können, was sie selbst gern sein wollte. Stets wurde sie von der Gesellschaft nach vorn geschoben. In die deutsche Einheit als bundesweite linke Sammlung gegangen, füllte sie zunächst vor allem die Vertretungslücke Ost im Parteiensystem aus. Zehn Jahre später, mittlerweile als ostdeutsche Volkspartei stabilisiert und etabliert, kontert sie die Rentendemagogie der Union mit einer Unterschriftenkampagne zur Angleichung der ostdeutschen Lebensverhältnisse an West-Niveau – dabei ist sie doch schon die bundesdeutsche Antikriegspartei und zudem gerade dabei, aus der sozialdemokratischen Erbmasse eine gehörige Portion des – die Ost-West-Problematik deutlich überlagernden – Themas soziale Gerechtigkeit zu übernehmen.
Für eine Partei, die von der Gesellschaft so geschoben wird, ist es vielleicht eine Zeitlang weniger wichtig, ob sie ein sozialer Organismus oder eine Ansammlung einigermaßen ähnlicher politischer Individuen ist. Bis irgendwann eine kritische Masse erreicht wird – zum Beispiel wenn man zweitstärkste Partei in Ostdeutschland ist, im Westen den langen Marsch durch die kommunalen Institutionen beginnt und sich bundesweit bei Umfragewerten zwischen sieben und acht Prozent einpendelt. Dann wird es Zeit, sich nicht mehr schieben zu lassen, sondern selbst die Lokomotive anzuspannen, sie unter Dampf zu setzen und Weichen zu stellen.
Und das genau ist das Problem der PDS. Max Hagebök hat einerseits recht (Das Blättchen, 22/1999): Es gibt in der PDS keine funktionierende Struktur, die notwendige Prozesse politisch führt. Doch darunter liegt noch ein anderes, schwierigeres Problem. Hagebök deutet es an: Die PDS hat ein Kommunikationsproblem – vor allem ein internes.
Funktionierende Kommunikation setzt verschiedenes voraus: nach unten und oben wie auch horizontal für den Austausch von Informationen und Gedanken förderliche, zumindest durchlässige Strukturen; Themen, um die sich ein solcher Austausch gruppiert und ordnet; und Zwecke, auf die die Kommunikation gerichtet ist. Daß all dies nicht so recht funktioniert, ist tatsächlich ein Führungsproblem. Aber es ist kein Problem, das einer kleinen Gruppe Spitzenpolitiker allein angelastet werden könnte. Es ist ein Problem all jener Individuen, die als die Träger und Forcierer des Wandels in Gesellschaft und Partei auch Führungsverantwortung innehaben. Ihre Kraft ist auf dem langen Marsch durch die Institutionen gebunden, teils vielleicht schon aufgebraucht. Sie haben sich aufgerieben in Tagespolitik und Theorie – und die Partei ideologische Heimat, teils auch ideologischen Tummelplatz sein lassen. Um so dringlicher ist es, jetzt aus dem gewohnten Marschtrott aufzubrechen und zum wirklichen Kultursprung anzusetzen: zum Sprung nicht in die Fremde, sondern aus der ideologisch verhüllten in die viel näherliegende wirkliche politische Welt. Dorthin, wo man eigentlich schon ist. Man muß es nur wissen wollen.