von Wolfgang Sabath
Auch auf die Gefahr hin, daß selbst die gutwilligsten Leser oder die gutwilligsten Leserinnen im nächsten Augenblick diesen Beitrag genervt überblättern oder gar das ganze Heft unwillig zur Seite legen: Ich will doch noch einmal auf jene Feiern und Feierlichkeiten eingehen, denen wir in den letzten Wochen vor allem durch Presse und Fernsehen beiwohnten und die dem Tage galten, an dem vor zehn Jahren »die Mauer« fiel. Auch viele Verlage nutzten die Gunst der Stunde und brachten um jenen Tag herum wieder die passenden Bücher in Umlauf. Zum Beispiel edition ost ein Erinnerungsbuch mit Berichten von fünfzehn DDR-Diplomaten Der Letzte macht das Licht aus (herausgegeben von Birgit Malchow)und der Mitteldeutsche Verlag Erinnerungen Hans-Jochen Tschiches Nun machen Sie man, Pastorche.
Beide Bücher sind exemplarisch für höchst unterschiedliche Biographien in der DDR. Was zwangsläufig auch zu unterschiedlichem Erinnern an sie führen muß?
Die politische Elite der Bundesrepublik Deutschland beging den zehnten Jahrestag des Mauerfalls als eine Art »Sedan-Tag«. Keiner wirkte dabei komischer als Bundeskanzler Gerhard Schröder, aber das nur nebenbei. Und wie häufig bei derartigen Anlässen beschwor Wolfgang Thierse wieder einmal die deutschen Stämme, sie mögen sich ihre »Biographien erzählen«. Ich bin mir nicht sicher, ob das was nutzen würde, ob sich die Protagonisten durch ein gesamtgesellschaftliches Palaver wirklich näherkämen. Weil nämlich nicht einmal jene Leute aus Ost/West, die politisch auf gleichen »Wellenlängen« senden und empfangen, problemlos miteinander umzugehen in der Lage sind. Und zwar unabhängig vom jeweiligen politischen Standort; was ein(en) mir bekannten Redakteur, der nach dem DDR-Ende beruflich sehr mit »West-Linken« verbandelt war, schon sehr bald nach dem Zusammennageln zu dem fatalistischen Stoßseufzer veranlaßte: »Sie können einfach alles, und sie wissen einfach alles besser …«
Wenn denn also die in einem Staatsgebilde siedelnde deutsche Nation wirklich das Nonplusultra und das gegenseitige Einvernehmen der Deutschen wirklich von uns allen gewollt sein sollten (was ja heutzutage allenthalben wie ein Naturgesetz gehandhabt wird, aber natürlich keines ist …), ja dann müßten vielleicht erst einmal die sogenannten Ostdeutschen miteinander ins Reine kommen. Indem erst einmal sie sich ihre Biographien »erzählen«, meinetwegen auch um die Ohren hauen. Denn das »Ländchen« – allein schon dieses Diminutiv dürfte nicht wenige gewesene DDR-Bürger auf die Palme bringen – war alles andere als ein einheitlicher Organismus. Es lebten und agierten verschiedene Bevölkerungsgruppen in der DDR, die fast nichts voneinander wußten. Wenn es hoch kam, ahnten sie einander. Sie lebten in unterschiedlichen politischen Räumen – und waren, alle auf ihre Weise, oft auch hinreichend borniert.
Die eingangs erwähnten Bücher belegen das: Zwischen den Biographien von DDR-frommen Botschaftern und des bis heute renitent gebliebenen Pastors Hans-Jochen Tschiche liegen Welten. Da ist es dann mit »erzählen« allein nicht getan.
Tschiches Erinnerungen an die DDR sollten sich vor allem jene zumuten, die sich jetzt gelegentlich aus Trotz die DDR schöndenken. Das Buch tut streckenweise weh. Vor allem der Spott und Hohn Pastorches, mit denen er der Kader gedenkt, die ihm in altmärkischer Provinz und in Magdeburg das Leben schwermachten, wird vielerorts befremden. Da sind wir beim Problem: Die Betreffenden werden das Buch vermutlich gar nicht lesen, sondern sich – so sie die Zeiten politisch überdauerten – in ihrem politischen Umfeld einigeln. So wie sie es zu ihrer Zeit gelernt und praktiziert hatten. Trotz aller neuzeitlichen Polit-Insignien: Wenn etwas überlebt hat aus Zeiten der führenden Rolle, dann ist es eine bestimmte Art von Gewißheit und Selbstgerechtigkeit. Mehr noch: Inzwischen ist man wieder wer – und läßt es sich anmerken.
Dazu paßt als Pendant, daß »Pastorches« natürlich kaum so ein Buch mit Erinnerungen von DDR-Botschaftern in die Hand nehmen werden. Man lebt und erinnert sich also nach wie vor getrennt. Die kurze Phase einer kleinen Chance für gegenseitige Akzeptanz, die Zeit der Runden Tische, ist längst vergessen. Wobei Akzeptanz vielleicht nicht unbedingt der Begriff ist, der hier gebraucht wird. Es hat schließlich zahllose Angelegenheiten in unserer schönen DDR gegeben, die nie und nimmer zu akzeptieren gewesen wären. Schon allein darum nicht, weil sie der Verfassung des Landes widersprachen. So sollten wir uns vielleicht besser darauf verständigen, daß es darauf ankommt, daß wir uns unsere einstigen Verhaltensweisen erklären und gemeinsam deren Genesis erkunden. Sicher, das verlangt beiderseitiges Zuhören. Immer noch, immer wieder, immer wieder neu; zweifellos eine anstrengende Geschichte, die Geschichte.
Wenn aber heute doch öffentlich Geschichte verhandelt wird – das passiert vornehmlich in Leserbriefen und in Talk-Shows –, ist eine erstaunliche Abwesenheit von Geschichte anzutreffen: Es wird bei diesen Gelegenheiten oft vortrefflich argumentiert und gestritten, und zwar durch und durch ahistorisch. Als hätte – um bei unseren Beispielen zu bleiben – das Verhalten »der Kommunisten« zur Kirche nicht auch Ursachen gehabt, die weit in die Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung zurückreichen; welche Veranlassung sollten eigentlich deutsche Kommunisten gehabt haben, als ihnen nach 1945 die Macht zufiel, ausgerechnet auf eine Kirche zuzugehen, die jahrhundertelang eine staatstragende Kirche gewesen war, Stichwort »Thron und Altar«? Das entschuldigt nichts, erklärt aber manches. Oder: Welche Veranlassung sollten Botschafter gehabt haben, jenem Staat, der sie, häufig einstige Barfüßler oder Kinder von Barfüßlern, zu Akademikern und Exzellenzen gemacht hatte, nicht eng verbunden zu sein? Daß sie dabei neu errichtete Bildungsschranken – zum Beispiel für Kinder von Pastorches – übersahen, und daß aus diesen Barfüßlern häufig genug piefige Karrieristen wurden, oder daß vor allem die ihnen Nachgewachsenen von Anbeginn ihres Berufslebens oft gar nichts anderes mehr als Karriere im Sinn hatten und sich dann einige von ihnen beispielsweise nicht zu schade waren, am Ende ihrer diplomatischen DDR-Laufbahn laut zu wehklagen, daß sie – vom einstigen Klassenfeind! – nicht übernommen wurden – das alles steht dann auf einem ganz anderen Blatt.
Bevor wir uns also auf Wolfgang Thierses Daueridee einlassen wollen, Altbundesbürgern unsere Biographien zu verklickern – wenn die denn überhaupt noch oder schon wollen – und uns die ihren anzuhören – wenn wir denn überhaupt noch oder schon wollen –, sollten wir vielleicht uns erst einmal hierorts gegenseitig jene Biographien anhören, gegen die wir uns bislang sperrten. Da ist noch längst nicht alles getan, und manche Ansätze sind schon wieder verschüttet. Vielleicht packen wir es. Vielleicht auch nicht.
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