Das Blättchen, 2. Jahrgang (II), Berlin, 23. August 1999, Heft 17

1. September

von Motek Weinryb

Ich erinnere mich genau an diesen Tag: Es war schönes Wetter. Blauer Himmel, Sonnenschein. Früh um fünf bombardierten deutsche Flugzeuge die ersten polnischen Städte und Dörfer. Um neun Uhr erfolgte die offizielle Kriegserklärung an Polen durch Hitler-Deutschland. Bis zu diesem Zeitpunkt waren bereits tausende Menschen in den Trümmern ihrer Häuser und auf den Straßen umgekommen. Aber niemand von uns konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, was für ein Schicksal den Menschen in Polen und in ganz Europa bevorstand.
Unsere Familie bestand aus acht Personen. Bereits am 2. September war unser Haus vollständig zerstört. Wir standen unter freiem Himmel. Unser Hab und Gut hatte sich in Rauch aufgelöst. Hunderttausende Menschen um uns herum befanden sich auf der Flucht. Mit Schrecken erlebten wir die ersten Deutschen in der Uniform der Wehrmacht. Sie kamen mit Panzern und Motorrädern. Der systematische Vernichtungsfeldzug hatte begonnen …
Am 4. September dann gab es einen „Führerbefehl“ zur Abschreckung der Bevölkerung: Männer, Frauen und Kinder wurden auf den Straßen und in den Häusern erschossen.Es war ein schwarzer Tag; den blutigen Montag haben wir ihn genannt. Ihm sollten noch ungezählte folgen. Wehrmacht, SS und Feldgendarmerie trieben die Juden in die Synagoge. Vier Tage und vier Nächte waren wir dort ohne Nahrung und Wasser auf engstem Raum zusammengepfercht. Lösegeld, Gold und Wertsachen haben sie von uns gefordert, während draußen die Häuser und Geschäfte geplündert und kein Stein auf dem anderen gelassen wurde. Bis zu zwölf Stunden schwerer körperlicher Arbeit mußten wir später täglich verrichten und erhielten dafür mehr Schläge als Essen. Viele Junge wurden nach Deutschland zur Sklavenarbeit verschleppt. 1940 wurde dann die Bildung von Ghettos für die Juden angeordnet. Tausende verreckten auf offener Straße durch Krankheiten, Seuchen, oder sie verhungerten einfach. 1942 dann endgültig der organisierte Massenmord: Millionen jüdischer und polnischer Menschen wurden in die Vernichtungslager Auschwitz, Maidanek und Treblinka geschickt. Ich bin Zeuge dieser unvorstellbaren Greueltaten, war in verschiedenen Ghettos und bin durch die Hölle der KZ Buchenwald und zuletzt Theresienstadt gegangen. Auf allen diesen Stationen habe ich am Widerstandskampf teilgenommen.
Vor sechzig Jahren hat all das begonnen. Die Deutschen meiner Generation sollen nicht sagen, sie hätten nichts gehört, nichts gesehen oder nichts gewußt. Das gilt für die Vergangenheit. Und es gilt für die Gegenwart, wo Fremdenhaß, Antisemitismus und Rechtsradikalismus wieder das Haupt erhoben haben. Und wo Deutschland auf dem Balkan erstmals wieder aktiv Krieg geführt hat.
Als ein Zeitzeuge der letzten sechzig Jahre europäischer Geschichte möchte ich so gern glauben, die Menschen hätten aus diesen furchtbaren Ereignissen von damals etwas gelernt; wären fähig, Schlußfolgerungen zu ziehen. Allein, die Ereignisse lassen wenig Optimismus zu. Um so mehr gilt es, gegen das Vergessen anzukämpfen.