21. Jahrgang | Nummer 9 | 23. April 2018

Ende der Kunstgeschichte oder Anfang der Selbsterkenntnis?

von Thomas Kurt Grieser

Die Rede vom Ende der Kunstgeschichte wird immer vernehmlicher. Ein überraschendes Faktum, da man doch annehmen sollte, im Zeitalter der Postmoderne, in dem die Künstler in ihren Hervorbringungen mit Vorliebe bereits Dagewesenes zitieren statt Neues zu schaffen, sollte dies nicht so sein. Der angebliche Verlust kunstgeschichtlicher Ordnung fügt sich ein in den ausufernden Diskurs über die Gefahren der Globalisierung. Zum Einen wird behauptet, der europäische Kunstbegriff, der seit der Renaissance stets historisch und künstlerbiografisch fundiert gewesen sei, werde von der Wucht eines interkulturellen und kunstgeschichtlichen Analphabetismus zerlegt. Kunst verliere demnach ihre tradierte Bildungsfunktion (vergleiche etwa Wolfgang Ullrich). Zum Anderen gerate die Kunst im marktwirtschaftlichen System zwischen die unerbittlichen Mahlsteine der Ökonomisierungsratio, die alle Lebensbereiche durchziehe.
In der Kulturlosigkeit zeitgenössischer Aneignungspraktiken, die durch zunehmende Virtualisierung der Bildrezeption und Unkenntnis geschichtlicher und gattungsspezifischer Kategorien gekennzeichnet ist, verliert die Kunst eine ihrer zentralen Funktionen: die ästhetische Ausdrucksfähigkeit der Individuen in einer bestimmten Kultur und Gesellschaft voranzubringen. Die Utopietendenz der Kunst schießt übers Ziel hinaus und zerstört jeden Realitätsbezug. „Verhübschung“ (Wolfgang Welsch) als Kehrseite künstlerischer Dekorationsfunktion potenziert sich über die massenhaft und gleichzeitig anonym stattfindende Rezeption im Internetzeitalter. Globalisierte Kunstwahrnehmung degeneriert zum ortsungebundenen Konsum von irgendwelchen Bildern auf irgendeinem Bildschirm und ist demnach sicher kein Fortschritt im Sinne klassischer Bildung. Ebenso wenig wie eine globalisierte Kunstproduktion als bloß reproduzierende digitale Bildbearbeitung. Immerhin erweitert sich in diesem Wirkungsfeld der Bekanntheitsgrad von früher nur in Bildungsmilieus bekannten Bildern und Bauwerken – oft genug bis zur Abgedroschenheit. Ist damit heute die Kommunikations- und Ausdrucksfähigkeit sowohl der Kunstschaffenden als auch der Rezipienten auf der Strecke geblieben? Der Begriff der Zeitlosigkeit verstanden als auratisch aufgeladene Verewigung durch die Kunst und die daraus sich speisende enigmatische Unendlichkeit der Deutungsmuster wäre abgelöst durch ein neues Verständnis: das Unvermögen und die Unlust Kunst in ihren Entstehungskontexten zu interpretieren?
Es macht in Wahrheit keinen Sinn dieser Negation ästhetischer Diskursfähigkeit das Wort zu reden, denn es handelt sich um eine Verkennung dessen, was der Soziologe Norbert Elias als den zivilisatorischen Prozess der Individualisierung beschrieben hat. Moderne Zivilisation beginnt in diesem Verständnis dort, wo der Mensch sich zunehmend als Einzelwesen erkennt und damit seine sozialen, beruflichen und kulturellen Funktionen in Hinblick auf Tauglichkeit für persönliche Identitätsziele prüft. Die Identitätsbildungsfunktion der Kunst ist somit nicht bloß ein entwicklungspsychologisches Problem des Jugendalters. Erwachsene werden durch die Ausbildung und Erweiterung ihrer künstlerischen Ausdrucksfähigkeiten in Literatur, Bildgestaltung, Musik, Theater und Film zur Reflexion ihrer Person befähigt.
Dieser Prozess kann sich einerseits autonom, andererseits politisch engagiert vollziehen. Dabei sind diese beiden Möglichkeiten auch die Seiten ein und derselben Medaille. Denn Erwachsene, die als politisch mündige Subjekte gelernt haben, sich selbst im Prozess der Kunstaneignung zu begegnen, erkennen auch die heute vordringlich gewordene Aufgabe ästhetischer Bildung, die darin besteht, den Menschen zu befähigen sich in seiner individuellen und sozialen Gewordenheit zu versichern. Ein dringlicher Bedarf ergibt sich in der globalisierten Welt aus der gehäuften Erfahrung des Kulturschocks. „Die Anderen“ zu begreifen, gelingt am besten über die Beschäftigung mit der unverstandenen Kunst und den fremden Künstlern.
Natürlich ist dieser Prozess der Enträtselung aufwändiger als in einer kulturell relativ homogenen Welt. Die politische Befreiung des Menschen geht über ökonomische Voraussetzungen hinaus, die nur das materielle Wohl betreffen. Ihre künstlerisch-kulturelle Dimension verlangt nach der Mitteilbarkeit individueller Erfahrungen. Dies zu leisten ist aufgrund der Vielfalt ihrer Ausdrucksmittel und Sozialformen in erster Linie die Kunst imstande. Wieso sollte also im Zeitalter der Globalisierung ausgerechnet die Kunstgeschichte verloren gehen? Kunstpädagogen, erklärt uns die Kunst, die uns irritiert, solange bis wir sie verstehen. Und zeigt uns möglichst auch noch wie es geht, Kunst selbst zu machen!