20. Jahrgang | Nummer 10 | 8. Mai 2017

Vom Ausblenden und Ausgrenzen

von Jürgen Lauer

Nach dem Wahlkampfgetöse um die Präsidentschaft in Frankreich sollten wieder einmal die vier Jahre in den Blick genommen werden, die man dort oft die „dunklen“ nennt. Es ist die Zeit des Etat Français mit dem Regierungssitz Vichy unter dem Marschall Philippe Pétain in den Jahren 1940 bis 1944.
Am 9. April dieses Jahres erklärte die Kandidatin des Front National, Marine Le Pen, sinngemäß, diese vier Jahre gehörten nicht zu dem, was Frankreich ausmache; die Deportation französischer Juden sei von den Deutschen zu verantworten: „Wenn es Verantwortliche gab, dann waren es die, die an der Macht waren. Es war nicht Frankreich. Man hat in den letzten Jahren Frankreich ständig schlechtgeredet. Ich will, dass unsere Kinder wieder stolz auf ihr Land sind.“
So zeigte sich einmal mehr, was der für die Vichy-Zeit maßgebliche Geschichtsforscher Henry Rousso in seinem Buch „Das Vichy-Syndrom“ bereits vor dreißig Jahren feststellte: „Wie das Unbewusste in der Freudschen Theorie existiert das so genannte Kollektivgedächtnis in seinen Äußerungen, und die zeigen sich im Vichy-Syndrom als Symptome und Äußerungen einer von diesen vier Jahren erzeugten Traumatisierung, die sich erhalten hat und weiterentwickelt.“
Wer, wie Le Pen es wünscht, auf sein Land stolz sein soll, darf keine schwarzen Flecken auf der Nationalweste dulden. Ausblenden muss man dann solche Jahre, die das Gesamtbild stören – wie die Beinahe-Ausrottung der Herero 1904 durch die deutschen Kolonialherren als „Strafmaßnahme“, wie die Existenz der Gaskammern in Auschwitz, die als Feindpropaganda „entlarvt“ wurden, oder den Völkermord an den Armeniern 1915 als „Kollateralgeschehen des Weltkriegs“.
Was wirklich an Verantwortlichkeiten in diesen vier Jahren des Vichy-Regimes zu verteilen ist, wurde inzwischen durch sorgfältige historische Recherchen dargelegt.
Henry Rousso machte in seinem Buch „Vichy – Frankreich unter deutscher Besatzung 1940–1944“ deutlich, um welche Größenordnungen es dabei geht: Als „Fremde“ und „Ausländer“ galten in Vichy zuallererst die jüdischen Flüchtlinge, die in den 1920er Jahren aus Polen, Russland, Rumänien und später aus Nazideutschland geflohen waren (insgesamt 130.000 Personen); desgleichen die spanischen Flüchtlinge sowie die Mitglieder der Internationalen Brigaden, die nach dem Spanischen Bürgerkrieg nach Frankreich ins Exil gegangen und dort geblieben waren (ungefähr 125.000 Personen); schließlich auch deutsche und österreichische vor Verfolgung geflohene Antifaschisten (etwa 20.000 Personen).
Der Weg zur rückhaltlosen historischen Bestandsaufnahme der Vichy-Jahre war indes mühsam. In den Jahren, die unmittelbar dem Kriegsende folgten, galt es zuzuordnen und zu „säubern“, die Kollaboration mit der deutschen Besatzung zu ahnden oder jene Frauen zu „bestrafen“, die sich mit deutschen Soldaten „eingelassen“ hatten. Die Gaullisten rechneten sich ihren Anteil am Kriegsausgang zu, wie auch die Kommunisten, die sich als die Seele der damaligen Résistance begriffen.
Priorität hatte anschließend die Aussöhnung der Franzosen untereinander. Dazu musste die Bedeutung der Kollaboration mit der deutschen Besatzung herabgestuft, Amnestiegesetze erlassen und eine gemeinsame Gedächtniskultur definiert werden.
Der 8. Mai 1945, der Tag der Kapitulation Hitlerdeutschlands, wurde im Jahre 1953 zum nationalen Gedenktag erklärt, aber auf dem Hintergrund der Versöhnung mit Deutschland von den Präsidenten de Gaulle und Giscard d’Estaing als Feiertag wieder abgeschafft und erst durch François Mitterand im Oktober 1981 endgültig „rehabilitiert“. Im Dezember 1964 wurde in Paris die Urne des Résistance-Märtyrers Jean Moulin feierlich in das Panthéon überführt. Die Geschichtsschreibung beschränkte sich weitgehend auf militärische Aspekte der Kriegszeit und auf solche der Widerstandsbewegung.
Hier sei ein persönlicher Einschub erlaubt: Als ich gut zehn Jahre nach dem Kriegsende zu diesem Thema mit Franzosen diskutierte, war gelegentlich schon Spott herauszuhören, dass die Selbstzurechnung so vieler Franzosen zur ehemaligen Résistance wohl eher als Verdrängungstaktik zu verstehen sei. Eine solche Überhöhung eines Erinnerungsgutes weit über die tatsächlichen Größenordnungen hinaus bezeichnete Henry Rousso später als Résistancialisme. Noch deutlicher wurde der Stellenwert der Résistance als Kampfparole, als Ende Mai 1958 die Anhänger de Gaulles seine Machtübernahme forderten, die Linke im Comité de Résistance contre le Facisme zum Kampf gegen den „umstürzlerischen General de Gaulle“ aufrief und streikende Arbeiter in den Fabrikhöfen Anhänger mit Panzerplatten zu fahrbaren Barrikaden umrüsteten. Vor jedem öffentlichen Gebäude in Paris standen Fallschirmjäger mit entsicherter Waffe. Ich habe die Plakatzettel mit dem Aufruf zum Protest heute noch, die ich damals als politisch neugieriger Einundzwanzigjähriger mit jungen Arbeitern aus Aubervilliers an die Hauswände der nördlichen Pariser Arrondissements klebte.
Im Allgemeinen aber herrschte tatsächlich die Auffassung vor, dass der Geist der Résistance den Wertefundus der französischen Linken bestimmt und damit das neue Nachkriegsfrankreich politisch geprägt hatte. Um es mit den Worten von Stéphane Hessel zu sagen: „Es bedurfte des größten militärischen Desasters, das unser Volk je erlebt hat, um dieses nach Autoritarismus strebende und reaktionäre Frankreich xenophober und rassistischer Abgrenzung die Devise ‚Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit‘ aufheben und unter dem Zeichen Vichy triumphieren zu lassen. Aber dieses zweite von Kollaboration mit den Besatzern kompromittierte Frankreich fiel in der Befreiung zusammen. Das republikanische und soziale Frankreich schien sich also endgültig zu behaupten.“
In den 1970er und -80er Jahren gab es Anlässe, die Erinnerungen an die Vichy-Jahre wieder aufleben zu lassen: Mitterand führte die Feiern zum 8. Mai zwar wieder ein, schloss sich im Übrigen jedoch der Meinung de Gaulles an, dass die Vichy-Jahre nicht der Verantwortlichkeit Frankreichs angerechnet werden dürften. Der rechtsnationale Jean Marie Le Pen begann seine politische Laufbahn mit dem Front National und pflegte seinerseits die Tradition, die Vichy-Zeit aus französischer Verantwortung auszublenden. Er gehörte damit zu denen, die sich Henry Rousso zufolge („Le Syndrome de Vichy“) nicht bereit zeigten, der einzigen Periode der Machtausübung, die die französische Rechte in Gestalt des Vichy-Regime je hatte, den Rücken zu kehren.
Die Erinnerungsforschung wurde dadurch erst recht motiviert, mit aufwändigen Recherchen die Verantwortlichkeit französischer Beauftragter für Deportationen von Juden nachzuweisen. Die erste Ausgabe der großen Untersuchung „Vichy-Auschwitz“ des Historikers und Rechtsanwalts Serge Klarsfeld erschien 1983.
In diesen Jahren widmeten sich auch die öffentlichen Medien diesem Thema immer ausführlicher. Philippe Boubeillon schrieb am 10. Juni 1992 in France-Soir: „Am 16. Juli 1942 hat die Kollaboration des französischen Staates mit Hitlers Henkern ihr wahres Gesicht gezeigt. Am frühen Morgen verteilten sich 9000 französische Polizisten und Gendarmen in Paris und Vororten, um die unheilvollste Massenverhaftung unserer Geschichte durchzuführen. Auf Befehl der Deutschen und mit der Durchführungsgarantie der Regierung von Vichy wurden in wenigen Stunden 12.884 Personen festgenommen, weil sie jüdischer Abstammung oder jüdischen Glaubens waren. […] Es gab keinen einzigen deutschen Soldaten bei der Durchführung dieser Massenfestnahme, die von der SS und von hohen Regierungsvertretern von Vichy minutiös vorbereitet worden war.“
Der spätere Staatspräsident Jacques Chirac stellte sich genau 53 Jahre nach diesem Geschehen, das für viele der Betroffenen in Auschwitz endete, gegen die bisherige Sprachregelung de Gaulles und Mitterands und erklärte am 16. Juli 1995, Frankreich trage eine unauslöschliche Schuld an der Deportation von 13.000 Juden: „Diese Stunden der Finsternis besudeln für immer unsere Geschichte. Sie sind eine Schande für unsere Vergangenheit und unsere Überlieferungen.“
Dank der Recherchen vor allem von Beate und Serge Klarsfeld wurden außer gegen Klaus Barbie auch Prozesse gegen die französischen Hauptverantwortlichen Paul Touvier und Maurice Papon geführt.
Für das kollektive Gedächtnis wurde im Jahr 2000 schließlich der 16. Juli als nationaler Gedenktag für die Opfer rassistischer und antisemitischer Gewalt seitens des französischen Staates und zur Ehrung der „Gerechten“ in Frankreich eingerichtet.
Ab der Jahrtausendwende öffneten die französischen Behörden auch großzügiger die Archive der Pétain-Ära, so dass eine Reihe von neuen Forschungsarbeiten erscheinen konnte, die belegen, dass die Vichy-Behörden den Statut des Juifs vom Oktober 1940 weitgehend selbstständig erlassen und exekutiert hatten.
Bereits seit den 1990er Jahren hatte es sukzessive ein Ende damit, unerwünschte Perioden der Vorkriegs- und Kriegszeit auszublenden, und die französische Zeitgeschichte wurde in einem Geiste aufgearbeitet, der eine Perspektive zur Versöhnung und zur Bewältigung von Zukunftsaufgaben im europäischen Zusammenleben eröffnet.
Dies zeigt sich exemplarisch an dem ehemaligen Internierten-Sammellager Les Milles bei Aix-en-Provence. Die ehemalige Ziegelei hatte in der Zeit der Kriegsvorbereitungen Frankreichs als zentrales Lager für „unerwünschte Ausländer“ und später, bis zur Schließung im November 1942, als Ausgangspunkt für Deportationen nach Auschwitz gedient. Die Ziegelei war 1946 den Eigentümern für die Wiederaufnahme der Produktion zurückgegeben worden, sollte aber, technisch veraltet und unrentabel geworden, 1983 abgerissen werden. Inzwischen war jedoch ein Interesse gewachsen, dieses Monument der Zeitgeschichte zu erhalten. Die Historiker der Universität Aix-Marseille forderten eine Aufarbeitung der Internierungs- und Deportationsgeschichte im Zusammenhang mit diesem Gebäude und dessen Erhaltung als Gedenkstätte. Serge Klarsfeld hatte mit anderen bereits 1978 eine Dokumentation mit dem Titel „Le Mémorial de la Déportation des Juifs de France“ erarbeitet und ließ 1983 sein erwähntes umfassendes Grundlagenwerk „Vichy – Auschwitz“ folgen. Ihm wurde später ein Espace Klarsfeld im nunmehrigen Dokumentationszentrum Les Milles gewidmet. Auch der damalige Kulturminister Jack Lang ließ sich überzeugen, dass Les Milles als historische Gedenkstätte erhalten bleiben müsse.
Zwischen 2002 und 2012 entstand die Stiftung Les Milles als Fondation du Camp des Milles – Mémoire et Éducation. Die Gedenkstätte dient heute als Dokumentationszentrum zur Geschichte der Internierungen und Deportationen, als Museum für die Geschichte der Menschenrechte und für Humanwissenschaften sowie als Mahnmal und Vermittlungsort zum Studium von Diskriminierungsideologien, die ihrerseits Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus erzeugen. Nicht zuletzt hat der Ort das Ziel, die Akzeptanz von Verschiedenheit zu befördern, nach der Devise „Comprendre pour agir“ – „Verstehen, um zu handeln“.
Ich suchte vor kurzem diesen Ort auf, weil ich mich seit langem mit dem Leben des Schriftstellers Walter Hasenclever beschäftige, eines der damaligen Insassen des Lagers. Hasenclever hat sich dort das Leben genommen, weil er nach dem Waffenstillstand und den zu erwartenden Besuchen der Gestapo nicht in deren Hände fallen wollte. (Näheres zu seiner Person und seinem Leben kann meinem Blättchen-Beitrag in Ausgabe 13/2016 entnommen werden.).
Man darf die Sorgfalt und Hinwendung vorbildlich nennen, mit der in Les Milles die Einzelschicksale von Internierten dargestellt werden. Walter Hasenclever wird mit einer hohen Stele geehrt, auf der via Bildschirm ein etwa achtminütiges Text-Bild-Feature von seinem Leben und Wirken erzählt. Auch in Dokumentationen wird sein Name genannt und erscheint sein Porträt zusammen mit denen anderer Intellektueller, die zu jener Zeit in Les Milles interniert waren – wie der Maler Max Ernst, der Historiker Golo Mann oder der Schriftsteller Lion Feuchtwanger.
Gerade die Würdigung Hasenclevers zeigt die heutige Bereitschaft zur Aufarbeitung der Vorkriegs- und Kriegsgeschichte in Frankreich: Sein Roman „Die Rechtlosen“ aus dem Jahre 1939, der seine zweifache Internierung im Lager von Antibes zum Inhalt hat, wurde bereits 1998 ins Französische übersetzt, als er gerade in den „Sämtlichen Werken“ Hasenclevers im Mainzer Verlag von Hase & Koehler erschienen war. Der Roman gehört in Les Milles neben Feuchtwangers „Der Teufel in Frankreich“ zu den wichtigen literarischen Zeugnissen der damaligen Exilliteratur.
Auf dem Friedhof St. Pierre in Aix-en-Provence, wo über Jahrzehnte ein verwitterter Grabstein Hasenclevers Namen nicht mehr erkennen ließ, deckt nun eine stattliche Granitplatte sein Grab, mit der eingemeißelten Inschrift „Walter Hasenclever – Ecrivain allemand“ und seinen Lebensdaten. Es ist – da ich bei meinen Recherchen nach den möglichen Initiatoren beim Deutschen Literaturarchiv Marbach und bei den Nachkommen von Hasenclevers Geschwistern nicht fündig wurde – sehr wahrscheinlich, dass diese würdige Gestaltung seiner Ruhestätte der Fondation du Camp des Milles, die vom französische Staat und der Universität Aix-Marseillegetragen wird, sowie privaten Sponsoren zu danken ist. Sie haben den Site-Mémorial Les Milles in dieser vorbildlichen Weise konzipiert, um das dunkle Kapitel der Ausgrenzung ins Bewusstsein zu rücken.
Apropos Ausgrenzung: Gerade die wissenschaftliche Arbeit des Forschers Henry Rousso hat bewiesen, dass Angst zu Abgrenzung und Diskriminierung und in der Folge zu Fremdenhass und Rassismus führt. Dieser international bedeutende Wissenschaftler und Direktor des Pariser Instituts für Gegenwartsgeschichte war jüngst zu einer wissenschaftlichen Konferenz nach Houston eingeladen, wurde aber zehn Stunden auf dem Flughafengelände festgehalten und musste Abschiebung befürchten: Das Einreiseverbot von Präsident Trump für bestimmte Herkunftsländer sollte umgesetzt werden – und Roussos Geburtsort ist Kairo.