20. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April 2017

„Wir leben in einem religiösen Vakuum“

von Hermann-Peter Eberlein

Unter diesem Titel hat der Züricher Tagesanzeiger vor einigen Wochen ein Interview mit Adolf Muschg veröffentlicht. Der Schweizer Schriftsteller, seit dem Tode von Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch vielleicht die führende Stimme im Konzert der deutschsprachigen Schweizer Literatur neben Peter Bichsel, lässt sich dabei wenige Monate nach seinem Wiedereintritt in die reformierte Kirche, der er vor Jahrzehnten den Rücken gekehrt hatte, über den Wert von Religion im persönlichen wie im politisch-gesellschaftlichen Leben in einer Weise aus, deren Niveau dasjenige üblicher Debatten zu diesem Thema durch ihren Reichtum an Perspektiven und die Fähigkeit zum Aushalten von Widersprüchen weit überragt.
Aushalten von Widersprüchen: damit beginnt für Muschg – hier rekurriert er auf Jacob Burckhardts Unterscheidung der drei Potenzen Religion, Staat und Kultur mit ihren je unterschiedlichen und unvereinbaren Werten – Zivilisation. Jedoch: „Wir halten heute die Widersprüche nicht mehr aus. Wir müssen sie schubladisieren, ablegen in einer Kategorie. So entstehen Feindbilder. Wir beschränken uns durch unsere Feindbilder selbst.“
Muschgs höchst spannungsreiche Rückkehr zur Kirche seiner Eltern hat viel zu tun mit den Defiziten unserer globalisierten und digitalisierten Welt, in der sich alles rechnen muss. „Was sich rechnet, ist real, was sich für mich rechnet, ist gut. Das ist Idioten-Ökonomie, und sie hat sich zur Richterin über alle Lebensbereiche gemacht, bis zum Gesundheits- und Bildungswesen.“ Der emeritierte Professor für deutsche Literatur an der ETH Zürich kennt sie, die Studenten, die da fragen: Muss ich das lesen? „Was die sogenannte Bologna-Reform ‚Qualifikation‘ nennt, ist ein Fitness-Training für den Markt, Abrichtung zum Quote-Machen. Unterm Strich, auf den junge Menschen in den Wettbewerb geschickt werden, erscheint eine statistische Größe, kein gebildeter Mensch.“ Gegen diesen Wettbewerb ist die Kirche mit ihrem Blick auf den Einzelnen und sein Heil geradezu gnädig.
Das Aushalten von Widersprüchen ist für Muschg unmittelbare Folge der Feindesliebe, in der er den Kern der evangelischen Botschaft erblickt (ob sie das ist, mögen die Theologen zu klären versuchen): „Man muss sich in die Position der anderen Seite versetzen können. Das ist ein Stück Aufklärung.“ Diese Aufklärung ist gefährdet durch Populisten jeglicher Art, durch Schwarz-Weiß-Denken, auch durch Antiislamismus.
Allerdings ist sich Muschg durchaus bewusst, wie stark gerade die antiauflärerischen Impulse des Christentums durch die meiste Zeit seiner Geschichte hindurch waren. Sein Weg zurück in die Kirche konnte daher nicht gerade sein, sondern lief über Akte der Integration: „Ich habe die christliche Mystik über den Umweg Japan entdeckt. Der Zen-Buddhismus war meine befreiende Kraft.“ Ein Christentum, das sich zurückzieht auf das vermeintlich Eigene – das in Wahrheit doch höchst unterschiedliche Herkünfte hat – ein solches Christentum befreit nicht, schließt nicht auf, bleibt Ideologie. Nur ein Christentum, das sich dem Fremden öffnet, ermöglicht eine integrierte Persönlichkeit: „Ich bin mir meines Erbes bewusster geworden und von diesem Erbe ein Stück freier. Das erlaubt die Rückkehr zu den alten Matrizen. Aber ich bin weniger gläubig als je. Meine gottesdienstlichen Bedürfnisse werden wenn schon durch die Kunst abgegolten.“
Wohin Muschg zurückkehrt, ist ein liberales Reformiertentum, das von Zwingli den Humanismus und von Lessing die Aufklärung geerbt hat und das schließlich mit Goethe in einer pantheistischen Bildungsreligion aufzugehen bereit ist, ein Reformiertentum, in dem Evangelium und Zen, Aufklärung und Mystik nicht nur einen Platz haben, einander nicht allein tolerieren, sondern sich wechselseitig befruchten.
Ich wünsche Muschg, dass er in Zürich einen solchen freien protestantischen Geist findet – ich kenne die Schweizer Verhältnisse zu wenig, um abschätzen zu können, in welcher Verfassung sich die reformierte Kirche dort befindet. Aus der Innensicht kenne ich freilich die deutschen kirchlichen Verhältnisse, und da finde ich Unterordnung unter das ökonomische Diktat auf der einen, Rückzug auf das Bekenntnis auf der anderen Seite. Da finde ich Debatten über Kirchenaustritte, die ausschließlich an Besitzständen orientiert sind und eines jeden Gespürs dafür ermangeln, dass dem Protestantismus von seiner Genese her ein antikirchlicher Stachel eignet. Da finde ich Fundraising-Kurse und viele gut gemachte Ideen, wie man irgendetwas fröhlicher, frischer, begeisternder sagen kann – ich finde kaum einen Gedanken darüber, was man sagen soll und ob es überhaupt einen Sinn ergibt, etwas zu sagen.
Adolf Muschg allerdings hat etwas zu sagen – seiner Kirche nämlich: dass sie mehr zu sein hat als eine Eventmanagerin, mehr als „als eine Agentur guten Verkaufs“, mehr auch als das instrumentalisierte Feigenblatt vor den sozialen und politischen Geschwüren, die der globalisierte Wettbewerb hinterlässt. Dass sie ein Ort der Bildung zu sein hat im Sinne von Zweckfreiheit, von Interesse und im Sinne des Aushaltens von Widersprüchen, ein Ort des freien Umgangs mit den eigenen kulturellen Herkünften, ein Ort also von re-ligio, Rückbindung. Denn: „Man lebt davon, wie man dagegenleben muss.“