20. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2017

Die Karotte im Kapitalismus

von Hans-Dieter Schütt

Es gibt Sätze von einer geradlinigen Wucht, dass man sich selber fast neiderfüllt erlebt – angesichts eines so großen Reichtums an Rechtfertigung. Katja Kipping von der Linkspartei sagte kürzlich über die EU: „Die Hüter des Kapitals setzen auf das neoliberale Triple A: Angst, Abschottung, Aufrüstung. Dem gilt es, eine europäische Demokratie der sozialen Gerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und des Friedens entgegenzuschmettern […] Eine europäische Linke auf der Höhe der Zeit macht ein Europa für alle anders: von unten, internationalistisch, entschlossen und solidarisch!“
Ein Ton, der frappiert. Entgegenschmettern! Ein Europa für alle (alle!) anders! Bei solch forschen Vokabular spüre ich Politik als Wunschmaschine; ich ahne bei den Absendern solcher Unbedingtheiten ein Verhältnis zur Wirklichkeit, das aus der Wahrnehmung unerträglicher Zustände zur Fiktionalisierung neigt. Denn wo schmettert eine Linke gegenwärtig oder absehbar wem etwas entgegen? Wie kann eine Parteiung meinen, sie könne alles (alles!) für alle anders machen? Und von unten auf? Freiligrath reloaded! Wäre es so, müsste längst eine Völkerwanderung nach links begonnen haben.
„Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.“ Georg Büchner. Geht man jenen immer wieder mal bemühten linken Aufbruchs-Euphorien und Muskelmanifesten nach, für die Kippings Worte nur ein willkürliches Beispiel sind, dann träfe man wohl auf zustimmende Adressaten, die als erfahrungsresistent und standpunktledern gelten dürften. Oder so porös sind, „dass sie sich irgendwann ins ehrlichste Stadium der Sensibilität retten werden: in die Depression“ – wie Kabarettist Matthias Beltz schon vor Jahren bitterernstwitzig den „Ehrenkodex des modernen Linksseins“ definierte. Das den Weg bestehen muss von Hegels Weltgeist zum Weltmarkt, den Marx als wahren Weltgeist der Moderne ausmachte.
Ein linkes Grundproblem: Wer etwas dagegen hat, dass es ungerecht zugeht in der Welt, merkt schnell, dass es eben auch deshalb so ungerecht zugeht, weil viele Menschen nicht so zornig, oppositionell reagieren wie man selbst. So wähnt sich der Linke, weil er die Welt besser will, als der bessere Mensch. Und befördert – gegen herrschende Politik – das Furchtbarste an aller Politik: dieses „Reizklima des Rechthabenmüssens“ (Martin Walser). Dieses Absolutheitstremolo. Der Gang zu den Rednerpulten wie der Lauf auf einem Catwalk – präsentiert wird Gesinnung wie eine Allwetterkleidung fürs Bewusstsein.
Zuerst hast du vielleicht gedacht, durch dich werde in der Politik ein neuer Ton entstehen, eine Sprache, in der, was bis jetzt nicht gesagt werden konnte, endlich ausgesprochen werde. Eines Tages aber entdeckst du dein wahres Talent für Politik oder Leitartikelschaft: Dir macht es keine Mühe, jene Gegenmeinungen, die sich ebenfalls zu jedem Thema in dir bilden, sowohl zu unterdrücken als auch zu verschweigen. Und irgendwann reagierst du wie ein auf Moral programmierter Computer. Kein besonders teures Modell. Du weißt, was gut ist. Du willst gut sein. Dafür lügst du den Unterschied zwischen dem, was du denkst und dem, was du sagst, irgendwann einfach weg. Parteilichkeit. Gesinnung ohne jedes Gefühl dafür, dass widersprechende Meinungen einfach nur andere Meinungen sind, nicht falsche – ob in Sachen Syrien, SPD, Putin, Flüchtlinge.
Freilich haben’s Linke am schwersten: Wo andere Parteien an der möglichst besten Verwaltung des bestehenden Status quo arbeiten, schaut man links fortwährend auch auf neue Horizonte. Linke sind Sänger eines offenen Ausgangs, eines zweiten Naturzustandes gleichsam von Mensch und Gesellschaft – was heutzutage offenbar nur sehr Unerschütterliche zu berühren scheint. Von daher dieser Drang, sich Erfolgserlebnisse wenigstens herbeizureden? Von daher dieser fortwährende Ruck-Rumor? Jetzt und sofort sei man Motor der Gesellschaft, jetzt und sofort gelte es, neue Pole zu küren, neue Aufbrüche zu starten, neue Bewegungen in Gang zu setzen, neue Konferenzen einzuberufen, neue Aufstandsformen zu kreieren. Der Anständigkeit, der Solidarität, des Perspektivwechsels.
Muss, muss, muss. Jetzt, jetzt, jetzt. Als auferstehe Tempomacher Schabowski: „Unverzüglich!“ Geht das nie eine Nummer kleiner!? Denn wie war das soeben? Griechenland, Spanien, andernorts in Europa, auch in Lateinamerika: Linke Aufbrüche, ja, Hoffnungen, ja, und parallel dazu überbordende, theorietriefende, programmpralle Entwurfs-Euphorien ohne Ende. Rhetorisch ging’s atemloser durch den Tag, als es Helene Fischer in der Nacht schafft. Aber bald schon: die Einbrüche draußen, die Spaltungen, die Kompromisse, der Heldenmut der Realpolitik, speziell in Athen. Die Ernüchterung.
In den letzten Jahren gab es Occupy-Zelte, brennende Pariser Vorstädte und lohende Londoner Bürgerviertel, Stephane Hessels „Empört euch!“, das Manifest vom „Kommenden Aufstand“ (beides fast vergessen?), dazu so viele unermüdliche gewerkschaftliche, ökologische, soziale, wutbürgerliche Initiativen (unvergessen – denn um so wirksamer, je konkreter). Aber nichts bewirkte einen wirklichen linken Aufschwung. Schlimm? Lehrreich! Aus dem Paris des Jahres 1968 ist ein berühmtes Magnum-Foto von Bruno Barbey überliefert: Studenten bilden eine Kette und reichen Pflastersteine zu den Barrikaden weiter. Toll. Grandios. Erhebend. Ein späteres Foto zeigt, wie Pflastersteine zurück ins Straßenbett befördert werden. Bevölkerung, die mit dem Auto zur täglichen Ausbeutungsstätte fuhr, mochte keine Schlaglöcher. Quintessenz eines Klassenkampfes.
Demokratie bleibt, wie alles Menschliche – vorhersehbar unvernünftig. In gesicherten bürgerlichen Machtverhältnissen herrscht nach wie vor ein entscheidender Widerspruch, nämlich der zwischen einer zerrend wachsenden Dringlichkeit von Veränderungen und andererseits der Langsamkeit, der Lähmbarkeit – des politischen Apparats und vor allem der Wähler. Diese Demokratiepraxis ist bitter und frustrierend, da sie auch biedere, rassistische oder sonstig barsche wie blöde Gestalten ins Licht rückt. Der Traum, solch Zustand ändere sich unumkehrbar, ist jene Karotte, die dem Esel Demokratie lockend vorm Maul hängt. Der Esel aber bleibt langsam. Mehr als langweiliger Trab ist nicht drin.
Utopietreue ist eine ehrenreiche Monstranz. Aber das wünschenswert Bessere dieser Welt wird von der pragmatischen Frage belastet bleiben, wie es gelingt, Weisheit und Einsicht auf bestehende soziale (verbesserbare!) Institutionen zu übertragen und in technische Systeme einzubauen. Individuen können klug sein, Institutionen sind im günstigsten Falle gut konzipiert – an solchen Übertragungsproblemen wird sich auch die linkest vorstellbare politische Kraft abarbeiten müssen. Peter Sloterdijk beschrieb geradezu mitfühlend das Zerreißfeld: Linke Gemeinden sollen „wandlungsoffen sein wie am Vorabend einer Revolution und zugleich ruhig halten wie ein saturiertes Bürgertum.“ Der Philosoph nennt das eine nahezu tragische Situation für jede linke Kraft und deren Rhetorik. Im anfangs zitierten Blindwort vom „Entgegenschmettern“ scheppert jenes Blech, das diese Tragik produziert
Menschliche Intelligenz strebt in Kollektiven leider stets jenes niedrigst mögliche Niveau an, auf dem allein es sich gemeinsam (über)leben lässt. Das betrifft Parteien, Koalitionen, es ist jener Mechanismus, der Wählermehrheiten schafft. Voraussichtlich auch 2017. Trotzdem kann sich Deutschland natürlich verändern. Es könnte sieben Tage Pulver regnen, und dann müsste ein Blitz einschlagen. Schon hätte Frau Kipping Recht, und Europa wäre wirklich „für alle anders“.

neues deutschland, 07.01.2017. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.