19. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2016

„Das Volk“ und der Wahlkampf

von Detlef Puhl, zz. Salbris, Frankreich

„Was in den USA möglich ist, ist es auch in Frankreich, auch wenn das System das nicht wahrhaben will.“ Dominique de Villepin, einst Premierminister und Außenminister unter Jacques Chirac, ist einer der ersten, die sich zum Wahlsieg von Donald Trump in den USA vernehmen lassen. Jean-Pierre Raffarin, ebenfalls einst Premierminister unter Chirac, zieht eine eindeutige Schlussfolgerung: „Die wichtigste Information für uns, Franzosen, ist, dass Marine Le Pen in Frankreich gewinnen kann.“ Auch der amtierende Premierminister Manuel Valls, Mitte November zu Gast beim SZ-Wirtschaftsforum in Berlin, sieht Marine Le Pen „vor den Toren der Macht.“ Und diese, noch bevor endgültige Klarheit über den Ausgang der Wahl in den USA herrschte, gratulierte schon mal dem „neuen Präsidenten Donald Trump und dem amerikanischen Volk, dem freien.“
Ein gutes halbes Jahr, bevor die Nachfahren Montesquieus, des Erfinders des Prinzips staatlicher Gewaltenteilung, selbst einen neuen Präsidenten wählen und wenig später ein neues Parlament, ist in der Welt des demokratischen „Westens“ nichts mehr wie es war. Was demokratische Normalität sein sollte – Wahlen, Abstimmungen, auch Regierungswechsel – entwickelt sich zunehmend zu einem großen „Exit“ – dem Abschied der Wähler von einem politischen System, das als abgehoben und korrupt verteufelt wird; einem Abschied diesmal nicht durch Abkehr, durch Fernbleiben, durch Enthaltung, sondern einem Abschied durch entschiedene Absage, durch Stimmabgabe, durch Übernahme.
Selbst in diesem Land der Aufklärung und der Allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte liegt der rechtsextreme „Front National“ in Umfragen relativ stabil bei knapp 30 Prozent der Stimmen und seine Vorsitzende Marine Le Pen hat tatsächlich gute Chancen, den ersten Durchgang der Wahl am 27. April 2017 als Siegerin zu beenden, auch wenn darauf nicht zwangsläufig bei der Stichwahl am 7. Mai ein Votum zum Einzug in den Elysee-Palast folgen muss. Aber in einer jüngst in der Zeitung Le Monde veröffentlichten Umfrage sind immerhin 32 Prozent der Befragten der Meinung, dass auch andere politische Systeme genauso gut sein können wie die Demokratie. 70 Prozent der Befragten meinen überdies, dass die Wahlen sowieso nichts ändern und 74 Prozent der Befragten halten ihre gewählten Vertreter für „allzu oft korrupt“ – wohlgemerkt: nicht für „korrupt“, sondern für „allzu oft korrupt“, als ob „ein wenig korrupt“ noch zu ertragen wäre. Das Gefühl des „ras-le-bol“, des Überdrusses an der gesamten Pariser politischen Kaste, macht sich auch in Frankreich breit, seit langem schon, verstärkt durch das Gefühl der Unsicherheit infolge der Terroranschläge.
Könnte nicht alles so schön einfach sein, wenn man nur die Richtigen machen ließe? In den USA Donald Trump zum Beispiel, der ja ein erfolgreicher Geschäftsmann ist und weiß, wie man einen „Deal“ macht, wie man gewinnt. Der den „Islamischen Staat“ auslöscht, „in Grund und Boden bombt“, kriminelle Ausländer samt und sonders abschiebt. Ob der Kongress dann immer mitmacht, wird sich erweisen; allmächtig ist selbst der Präsident der USA nicht. Oder in Frankreich Marine Le Pen, die auch Präsidentin werden will und sich als „Kandidatin des Volkes“ präsentiert. Mit der dann, endlich, „das Volk“ regierte und nicht das Establishment… „Wir sind das Volk“ und Marine unsere Kandidatin? Nur, wer und was ist „das Volk“? Und wie und wen regiert man als „Volk“?
Das Wort vom „Volk“, dem „freien“, durchzieht die Wahlbotschaften, die die Kandidatin des Volkes unter dasselbe streut. Es prägt auch die Botschaften von Kandidaten der klassischen Rechten, Nicolas Sarkozy zum Beispiel, der sich zum Kandidaten der schweigenden Mehrheit erklärte und dessen Anhänger von ihm erwarteten, dass er „das Establishment zerschlägt, indem er des Volkes Stimme sucht.“ Deshalb sieht er in dem Wahlsieg des Milliardärs in den USA auch den Erfolg dessen, der auf „das Volk“ hört. So wie er? Und Marine Le Pen freut sich über den „Sieg des amerikanischen Volkes, des freien“. Und wünscht sich den Sieg des französischen Volkes, des freien, dessen Kandidatin sie ja ist.
Freilich, wer in Europa schon „Volksdemokratien“ und „völkische“ Beobachter hat wirken sehen, wird sich etwas genauer mit dem Begriff „Volk“ beschäftigen wollen. Schließlich kann, ja sollte sich jeder Einzelne damit gemeint fühlen. Aber ist wirklich jeder Einzelne gemeint? Wer gehört dazu und wer nicht? Und wer entscheidet darüber, wer dazu gehört und wer nicht? Anhand welcher Kriterien?
Nach den Vorstellungen der Volkskandidatin besteht das französische Volk aus „Millionen von Männern und Frauen, die grundsätzlich durch unsichtbare, aber unverrückbare Bande der Liebe zu einem Land, der Bindung an eine Sprache und eine Kultur vereint sind.“ Das Volk, sagt sie, ist „ein einziges Herz, das in Millionen Brustkörben schlägt, derselbe Atem, dieselbe Hoffnung.“ Das Volk, ein Körper mit einer Seele? Hier feiert die organische Nation fröhliche Urständ. Der Weg zur Vorstellung von einem „gesunden Volkskörper“ und der gebotenen Körperpflege sowie der Bekämpfung von Krankheiten ist dann ja nicht mehr weit.
Dies jedenfalls legt eine Analyse ihrer zentralen Wahlkampfaussagen nahe, die Le Monde zu Beginn des Herbstes veröffentlich hat. In dieser Logik ist es nichts Ungewöhnliches, dass die Kandidatin das Volk bei dieser Wahl vor einer „unerbittlichen Alternative“ sieht: Entweder Frankreich bewahrt seine Identität, siehe oben, bleibt also gesund, oder es wird ein Land, „das wir nicht wiedererkennen, das uns fremd geworden sein wird.“ Damit warnt sie implizit vor dem, was in deutschen rechtsextremen Kreisen die „Umvolkung“ genannt wird, die schleichende Verdrängung der in Frankreich „Francais de souche“, in Deutschland „Ethno-Deutsche“ genannten (ja, was? „Eingeborenen“? „Urbevölkerung“?) durch die wachsende Zahl der Einwanderer vom benachbarten Kontinent. Frankreich soll Frankreich bleiben, verkündet sie auch. Aber was ist Frankreich?
Es ist ein Staat, der nicht mehr Herr in seinem eigenen Land ist, dessen Politik „zu oft vom Ausland diktiert wird, von Washington, Berlin oder Brüssel“, in dem „die Franzosen sich ihres Rechts beraubt sehen, sie selbst zu sein.“ Dafür macht Le Pen keineswegs „äußere Feinde“ verantwortlich, sondern die eigene Elite, die eigenen Volksvertreter, die das Volk verraten hätten, als sie „Verträge unterschrieben, die die Freiheit der Nation einschränken, die ihre Gesetze, ihre Justiz, ihre Sitten ausländischer Kontrolle unterwerfen.“ Neidisch schaut sie auf Großbritannien und sein Votum zum Brexit und erhofft sich sehnsüchtig, „dass auch wir unsere Freiheit wiedergewinnen.“ Denn Tag für Tag werde Frankreich „von Berlin, Brüssel oder Washington aufgefordert zu schweigen, zu gehorchen, sich Gesetzen, Prinzipien, Direktiven oder Verträgen zu fügen, die das französische Volk nie wirklich gewollt hat.“
Und diese Kandidatin des Volkes, die genau weiß, was das Volk gewollt, und was es nicht gewollt hat, steht nun „vor den Toren der Macht“? Und will nicht weniger, als Frankreich retten und die Demokratie gleich mit. Denn „es wird kein Frankreich mehr geben ohne Identität. Und es wird keine Identität geben ohne Souveränität.“ Und „ohne Souveränität und ohne Volk wird es auch keine Demokratie mehr geben.“ Dürfen die Franzosen also auf Rettung hoffen oder müssen sie, müssen wir uns Sorgen machen?
Wenn man nur wüsste, was mit all diesen Worthülsen gemeint ist! Die Begriffsverwirrungen, ob beabsichtigt oder nicht, bleiben und müssen Sorgen machen. Denn sie reichen ja über die Demagogie der Volkskandidatin hinaus. Das „Volk“ will etwas oder es will nicht? Wer ist das denn nun, das Volk? Und alle wollen dasselbe oder vielleicht doch nicht? Frankreich bleibt Frankreich oder Deutschland bleibt Deutschland, wie Angela Merkel verkündet? Ja, was denn sonst? Die Bundeskanzlerin stellt dies im Übrigen zu recht nur schlicht fest; sie stellt es im Gegensatz zur französischen Kandidatin nicht in Frage. Aber wer ist Frankreich? Wer ist Deutschland?
Richtig ist, dass die Frage der Identität zu einem zentralen Begriff der Wahlkämpfe in unseren Ländern geworden ist. Grund genug, sich mit dessen ganzer Vielfalt und nicht demagogisch oder polemisch zu beschäftigen.