19. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2016

Postfaktotum

von Eckhard Mieder

Es ist seltsam, wie sich eigene Gefühle, eigene Beobachtungen, eigenes Gehörtes in einem Terminus bündeln, auf den ich selbst nicht gekommen bin. Ich höre das Wort „postfaktisch“, ich lese die Fügung „postfaktisches Zeitalter“, und ich denke: Genau, das ist es, was ich seit Jahren bündig als Begriff für mein kopfschüttelndes Unverständnis gesucht habe. Für mein Staunen über die fröhliche Bereitschaft, nichts Genaues mehr wissen zu wollen. Für mein Entsetzen, dass Entscheidungen „aus dem Bauch“ schwerer wiegen als auf Fakten gegründete. Für meine Resignation: Wenn schon jeder Ganz-, Halb- oder Zehntel-Promi damit Punkte macht, dass er Mathematik, Chemie, Physik hasst, dass er sein Studium abgebrochen hat, nicht weiß, wann der Zweite Weltkrieg endete und trotzdem erfolgreich geworden ist, dann muss der Planet Erde vor seiner Zeit erlöschen.
Nun mal runterkommen.
Nun mal langsam, mal faktisch.
Es gibt, ich bin optimistisch, immer und immer wieder Menschen, die aufwachsen und von Aristoteles, Diderot, Newton, James Watt, Darwin, Marx, Turing einiges in ihre Hirne downloaden. Es gibt, ich bleibe optimistisch, genügend Menschen jeden Alters, die einen Wallach nicht für einen Zuchthengst, die Milka-Kuh nicht für das Abbild einer Milchkuh und das Eis auf einem See nicht für einen außerirdischen Klodeckel halten. Ich bin mir sicher, optimistisch wie ich sein möchte, dass die meisten Menschen doch wissen, dass Jesus ans Kreuz geschlagen wurde (obwohl, Zweifel sind erlaubt; falls es alle Christen wissen, wäre schon schön), Gagarin ins All flog, Napoleon bei Waterloo endgültig geschlagen wurde und Gummibärchen nicht die niedlichen Geschwister der Eisbären sind. Ich glaube sogar an die Zukunft der Oper, der menschlichen Zunge, des Riesling-Weines, des Waldes und – nun ja, sogar an die Zukunft der Menschheit.
„Postfaktisch“. „Postfaktisches Zeitalter“. Ich bin dabei und bin doch verunsichert. Ich hörte auch schon vom „Postfeminismus“. Zu schweigen von all den „Generationen XYABCDEF …“, „Fräuleinwundern“ in der Literatur, und gab es nicht auch schon mal die Sache mit dem Eigen-Urin? Aber das mit dem „Postfaktischen“ geht tiefer, glaube ich.
Die britische Wörterbuchreihe Oxford Dictionaries hat am 16. November ihr internationales Wort des Jahres bekannt gegeben: „post-truth“, auf Deutsch übersetzt mit „postfaktisch“, so SPIEGEL ONLINE: „Das Redaktionsteam wähle immer ein Wort aus, das das vergangene Jahr am besten reflektiere, heißt es in der Begründung.“ Und die Verwendung des Begriffs „postfaktisch“ habe sei 2015 um ungefähr um 2000 Prozent zugenommen.
Ein Wort, das das vergangene Jahr am besten reflektiert. Der Begriff definiere die Beschreibung von „Umständen, in denen objektive Fakten weniger Einfluss auf die Bildung der öffentlichen Meinung haben als Bezüge zu Gefühlen und persönlichem Glauben“.
Schade. Irgendwie zu kurz, zu einfach, zu kurzatmig.
Für mich.
Ich habe seit, ja seit über 20 Jahren das Gefühl, in einem „postfaktischem Zeitalter“ zu leben. Ich habe das Gefühl, dass es nicht nur um die „öffentliche Meinung“, sondern um das gesellschaftliche Bewusstsein geht. Ein entsetzliches Gefühl. Jetzt müsste ich faktisch werden. Und recherchieren und auflisten, welche Esoteriker, Sekten, Langweiler, Demagogen, Emotionalisten aller Länder, Pillendreher, Geschichts- und Wissenschaftsfälscher und andere mehr unterwegs sind, um in der „postfaktischen Gesellschaft“ die Guides durch das Leben der Menschen zu sein. Von Menschen, die sich vom eigenen Verstand verabschieden und ihn delegieren.
Oder ihn nie gebraucht haben?
Oder ihn nie hatten?
Weil es genügend „postfaktische Verführer“ gibt?
Oder „postfaktische Führer“?
Als Postfaktotum kommt man ins Grübeln.