19. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2016

„Radikalisierung“ – propagandistische Dummheit oder kluger Schachzug?

von Werner Sohn

Nur wenige Tage nach dem islamistischen Terroranschlag vom 13. November 2015 in Paris, der zum Ausnahmezustand in Frankreich führte, hat sich der bekannte Philosoph Alain Badiou in einem Vortrag im Théatre de la Commune, Aubervilliers, zu den Mordtaten und ihrem gesellschaftlichen Kontext geäußert. Eine Mitschrift ist jetzt unter dem pathetisch ausgreifenden Titel „Wider den globalen Kapitalismus“ (Original: „Notre mal vient de plus loin“) auch in deutscher Sprache im Ullstein-Verlag erschienen.
Wer im Zusammenhang mit dem islamistischen Terrorismus an Begriff und Phänomenologie der Radikalisierung interessiert ist, wird bei der Lektüre der kleinen Abhandlung auf wenigstens zwei bemerkenswerte Argumente stoßen. Man führe sich dazu vor Augen, dass der Begriff der Radikalisierung seit geraumer Zeit in aller Munde ist, in der Fachwelt, den Medien und wahrscheinlich auch an den Stammtischen.
Als in Frankreich der Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhlel am 14. Juli 2016 85 Personen mit einem Lastwagen tötete, war man nach ersten Mutmaßungen über eine Amokfahrt des als depressiv geschilderten „tueur au camion“ auf eine islamistische Motivation gestoßen. Schon am 16. Juli teilte Innenminister Bernard Cazeneuve zum Ermittlungsstand mit, dass der bislang polizeiunbekannte Täter sich offenbar sehr schnell radikalisiert habe.
Am 18. Juli 2016 verletzte in Deutschland der afghanische Asylbewerber Riaz Khan Ahmadzai in einem Regionalzug fünf Personen mit einer Axt schwer. Ein islamistisches Bekennervideo wurde gefunden. Mehrere Tageszeitungen versahen amtliche Bekundungen zwei Tage später mit dem Titel: „Radikalisierung in nur zwei Tagen?“
In politischen und polizeilichen Verlautbarungen über terrorverdächtige Personen, Täter oder zurückkehrende Kombattanten werden sich europaweit unfehlbar Angaben darüber finden, wo und wann die Betreffenden sich (selbst) radikalisiert hätten oder (von anderen) radikalisiert worden seien. Im persuasiven Sog des Wortes gerät es zur Selbstverständlichkeit, dass einem radikalen Standpunkt, der im „Bedeutungskontinuum“ vom alltäglichen Islam zum Dschihadismus und zum IS-Terrorismus eingenommen werden kann, Prozesse vorausgehen, die mit „Radikalisierung“ zutreffend bezeichnet sind.
Für den Altkommunisten Badiou, der seit den 1960er-Jahren selbst für das tolerante Frankreich recht radikale Positionen vertritt – hierzu gehörte auch, was die deutsche Wikipedia-Seite unterschlägt, eine vor langer Zeit öffentlich geäußerte Sympathie für den kambodschanischen „Bruder Nr. 1“ („Kampuchea vaincra!“) –, muss „Radikalisierung“ zweifellos ein unerwünschtes Schlagwort sein. Sie gilt ihm als ein Ergebnis „propagandistischer Dummheit“, da diese sogenannte Radikalisierung in Wirklichkeit dem psychologischen Muster der Regression folge. Jene „jungen Franzosen“, die Mörder von Paris, seien nämlich – so vernahmen die Theaterbesucher in Aubervilliers vielleicht mit einem Anflug von Erstaunen – nichts anderes als regredierte Faschisten! Dieser Faschismus werde mithilfe eines „Subjektivitätstypus“ erzeugt, der eine tief in der Person nistende und irgendwann gründlich enttäuschte Sehnsucht unterdrücke und dabei zerstörerische Impulse freisetze. „Er ist im Wesentlichen die verdrängte Sehnsucht nach dem Westen, an deren Stelle nun eine nihilistische, mörderische Reaktion tritt, die nichts anderes als das Objekt der Sehnsucht zur Zielscheibe hat.“
Ob es so ist, kann man nur glauben.
Der Marxist mag sich fragen, inwiefern es eigentlich einem materialistischen Standpunkt entsprechen kann, eine Erklärung für das Handeln der „jungen Franzosen“, die nicht nur Massaker in Frankreich anrichten, sondern auch als Kombattanten zu Tausenden für einen Islamischen Staat im Nahen Osten ihr Leben aufs Spiel setzen, empirisch zu immunisieren. Denn ein psychologisches (im Original: psychoanalytisches) Muster zu erkennen und eine fundierte Aussage darüber zu gewinnen, ob der mörderische Hass auf ein Objekt durch verschmähte Liebe zustande kommt, erfordert wohl mehr als eine äußerliche Applikation theoretischer Konstrukte, nämlich eine individuelle Durcharbeitung, die die „wahren“ Motive und den Ablauf ihrer Entgleisung zum Vorschein bringt.
Wenn Badiou die gängig gewordene Rede von der „Radikalisierung“ als „propagandistische Dummheit“ verspottet, so verkennt er die gesellschaftliche Bedeutung dieses Begriffs. Er ist allerdings nicht aus einer wissenschaftlichen Analyse des islamistischen Terrorismus, sondern aus einer lange erwogenen Doppelstrategie hervorgegangen, die Sicherheitskreise der EU-Kommission seit etwa 2002 entwickelt haben. Mit dem klug lancierten Terminus, dessen Gebrauch durchaus auf Widerstände stieß, folgte man unter anderem einer dringlichen Aufforderung der EU-Ratspräsidentschaft, sich schützend vor den Islam zu stellen und ein wie auch immer konstruiertes „Bedeutungskontinuum“ zum dschihadistischen Terror zu vermeiden.
Dieser Absicht dient der Radikalisierungsbegriff, der eine rhetorische Entislamisierung des sogenannten „home grown terrorism“ einleitete. In Frankreich ist dies am Wandel des „Kampfes gegen den radikalen Islam“ („lutte contre l’islam radicale“) zum „Kampf gegen die Radikalisierung“ („lutte contre la radicalization“) zu beobachten. Natürlich ist dies – auch im Sinne Badious – Teil einer Propaganda.
Dabei geht es bekanntlich nicht um Wahrheit, sondern um zweckdienliche öffentliche Meinungsbildung. Die neue Strategie sollte in erster Linie, ohne dass man ein solches Ziel explizit erwähnen konnte, die Spannungen in der multikulturellen Gesellschaft, die als Kollateralschäden repressiver Maßnahmen in Europa sowie militärischer Aktionen außerhalb Europas zu erkennen waren, dämpfen.
In diesem Kontext, der in der EU durch unzählige Konferenzen, Debatten und Gremienarbeiten geprägt wurde, erzeugte der Begriff „Radikalisierung“ eine ganz außerordentliche Sogkraft. Er versprach Möglichkeiten der Beschreibung und Erklärung der aktuellen extremistischen / terroristischen Bedrohung und öffnete ein Füllhorn an nichtrepressiven, sozialintegrativen Handlungsperspektiven. An vorhandene sozialpädagogische Konzepte (zum Beispiel Anti-Aggressions-Trainings), Projekte der Gewaltprävention, vielfältige Ansätze der politischen Bildung und des interkulturellen Dialogs ließe sich Anschluss gewinnen. In der soziologischen Phantasie weitblickender Strategen könnten die Konturen einer facettenreichen „Deradikalisierungsindustrie“ entstanden sein, wie sie heute in Deutschlands westlichen Nachbarstaaten Gestalt annimmt.
Die deutsche Seite war an den initialen Prozessen ersichtlich nicht aktiv beteiligt. Die vermutlich erste interne Studie des Bundeskriminalamts (2006), die sich dem Radikalisierungsthema widmete, verband es noch eng mit der Al-Qaida-nahen Rekrutierung in moslemischen Milieus. Andere europäische Gremien und Fachleute standen jedoch zur Verfügung und halfen, eine praktische Konkretisierung des Begriffs einzuleiten und – etwa mit der Konstituierung des „Radicalization Awareness Network“ der EU – öffentlichkeitswirksam zu gestalten. Überdies war der Ball durch die Kommission in weite Kreise der Wissenschaft gespielt worden, die ihn mit Unterstützung beträchtlicher Forschungsgelder nicht ungern aufnahmen.
Seitdem haben die westlichen Regierungen Milliarden Dollar investiert, um Persönlichkeitsprofile und Radikalisierungsverläufe durch die akademische Welt untersuchen zu lassen. Eine Studie aus dem Bielefelder Institut für Konfliktforschung (2015) zählt mehr als zwanzig „häufiger zitierte“ Radikalisierungsmodelle. Auch ließ man sich nicht lange bitten und hat dem Ensemble noch ein eigenes hinzugefügt.
Wir vertreten nicht die Auffassung, dass es (in erster Linie) der Drittmittelreiz für die Universitätsforschung gewesen ist, der die erfolgreiche Durchsetzung des Begriffs begründete. Wenn er heute in aller Munde ist, so muss es wesentlich an der ihm eigenen Strahlkraft liegen, was freilich mit analytischer Präzision nicht verwechselt werden darf. Insoweit ist der EU-Fachadministration zweifellos ein „smart move“ gelungen.
Wir versprachen noch ein zweites bemerkenswertes Argument aus der kleinen Abhandlung Badious. Auch bei einem Vertreter der äußersten Linken finden wir schließlich das allgemeine Bestreben unserer Regierenden, der Massenmedien und zahlreicher Experten, den Islam aus dem Spiel zu halten. Das Religiöse sei nur ein „möglicher Zungenschlag“, versichert uns Badious Übersetzerin – wie der Katholizismus im spanischen Bürgerkrieg, an dem der „Faschismus klebte“. Einem Zungenschlag analytische Aufmerksamkeit zu widmen, führt zu nichts. Badiou weiß das, denn Badiou weiß viel. Der (radikale) Islam hat nun einmal nichts mit den mörderischen Attentatsserien in aller Welt zu tun. Wer anderes in Erwägung zieht, ist nach der Feststellung des Philosophen „nicht besonders seriös“.
Das ist zwar sympathisch milde formuliert. Wenn aber auch der linkeste der französischen Linken den Islam aus dem Spiel halten will – und nicht nur das besonders seriöse bürgerliche Lager –, dann muss die Skepsis endlich versiegen. Denn schon Chingachgook durfte sich in den berühmten Lederstrumpferzählungen James Fenimore Coopers von Natty Bumppo alias Wildtöter schließlich belehren lassen: „Was alle Bleichgesichter glauben, wird doch wohl wahr sein.“ Die paar Indianer zählen nicht.

2017 erscheint in der Fachzeitschrift Die Polizei eine ausführliche Darstellung des Autors zur Funktion des Radikalisierungsbegriffs unter dem Titel „Der Begriff „Radikalisierung“ als Hilfsmittel bei der rhetorischen Bewältigung der aktuellen Sicherheitslage“.