19. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2016

Militär und Gender

von Lutz Unterseher

Vielleicht gab es in grauer Vorzeit so etwas wie eine Amazonenherrschaft. Doch seither sind Männlichkeit und Soldatsein zwei Seiten einer Medaille. Zwar gab es Frauen, die in nationalen Befreiungsarmeen gemeinsam mit Männern kämpften, die einsprangen, weil „Not am Mann“ war. Und in zahlreichen modernen Armeen gibt es regulär dienende weibliche Freiwillige (in Israel auch Wehrpflichtige). Doch wohl nicht deswegen, weil der Feminismus einen Sieg errungen hätte, sondern wiederum unter dem Aspekt „Not am Mann“.
Aus demografischen Gründen und weil eine „zivilistisch“ sich entwickelnde Kultur die „Wehrfreude“ hat erodieren lassen, werden Frauen in die Streitkräfte gebeten. Dass dies dort zu einer substanziellen Aufweichung männlicher Selbstbilder, maskuliner Orientierungen, geführt hätte, ist bislang aber nicht berichtet worden. Wenn es auch eine gewisse Liberalisierung gibt: Die Frauen müssen sich in einer Männerwelt zurechtfinden.
Zwar hat der moderne Kampfanzug unisex appeal. Mit relativer Körperferne und Anleihen bei der Babykleidung (Strampler) verwischt er physische Geschlechtsunterschiede. Doch im Ausgehanzug setzt sich jene Tradition hautnaher Uniformierung fort, mit der Männer über die Jahrhunderte hinweg muskulöse Körperlichkeit, ihre Maskulinität, präsentiert haben.
Wenn denn das Soldatsein nach wie vor männlich konnotiert ist: Was bedeutet dies, jenseits der Körperlichkeit, im Hinblick auf mentale Orientierungen? Wir nehmen zwecks Fokussierung der Diskussion die militärischen Führer aller Hierarchie-Ebenen aufs Korn. Was macht ihre Männlichkeit in besonderem Maße aus? Ohne allzu viel Spekulation dürfte sich das folgende Rollenbild ergeben: Militärische Führer, als ganze Männer, sind typischerweise „Alpha-Tiere“ – mit dynamischer Initiative, die sie zügig in Entschlüsse gießen, um diese dann energisch umzusetzen. Sie hassen Passivität, das Abwarten. Deswegen liegt ihnen der Angriff mehr als die Verteidigung.
Von dieser in vielen Köpfen, zumal denen von Soldaten, vorfindlichen Assoziationskette, nämlich Militär – Männlichkeit – Initiative – Angriff, zeigte sich eine niederländische Religionsphilosophin so irritiert und herausgefordert, dass sie zum Gegenangriff überging:
Marlies Ter Borg stieß Mitte der 1980er Jahre zu jener Denkschule, die sich einer auf die Defensive spezialisierten Verteidigung Mitteleuropas verpflichtet sah. Sie propagierte diesen Ansatz, weil sie dessen Hauptprämisse teilte, nämlich dass eine sich auf die Zugangsverweigerung („denial“) beschränkende Streitkräftestruktur in Sachen Vermeidung von Krieg besser abschneidet als eine solche mit provozierendem Bestrafungspotential („punishment“).
Bei ihren Veranstaltungen stieß sie immer wieder auf das „Männerargument“, wonach die Beschränkung auf die Verteidigung Passivität, Verzicht auf Initiative und damit Schwäche impliziere. Sie argumentierte mit Carl von Clausewitz, seiner Einsicht in die Überlegenheit der Defensive, und insbesondere damit, dass der Angreifer die Initiative nach seiner ersten Aktion an den Verteidiger verliere. Doch sie drang damit oft nicht durch. Was ist den Niederländern schon ein preußischer General? Da besann sie sich auf eine Bibelstelle, die ihre Argumentation plastisch machte, und das kam besser an. Sind doch die Niederlande immer noch stärker religiös geprägt als etwa Deutschland.
Im Buch Ruth 3 und 4 des Alten Testaments geht es darum, dass eine Magd, Ruth, ein Auge auf den Bauern Boas geworfen hat, aber nicht den Mut hat, sich ihm zu nähern. Da rät ihr die alte Naemi, sich angetan mit ihrem schönsten Kleid dem schlafenden Boas zu Füßen zu legen. Als der aufwacht, sieht er keine andere Möglichkeit, als sich der Magd zuzuwenden. Boas lernt sie kennen, findet Gefallen an ihr, und am Ende wird geheiratet. Ruth hat also die Initiative. Mit scheinbarer Passivität, in Demut, kontrolliert sie die Situation. Die Initiative hat in diesem Zusammenhang also nichts typisch Männliches. Es gibt keinerlei energische Aktion, keine kühne Tat. Trotzdem, oder gerade deswegen, wird die gewünschte Wirkung erzielt. Alpha-Tiere gehören in den Zoo!