19. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2016

Wozu Reformationsgedenken?

von Hermann-Peter Eberlein

Im nächsten Jahr ist es soweit: Es wird gefeiert – ja was eigentlich? Der 500. Jahrestag von Luthers Thesenanschlag in Wittenberg, der sich vermutlich so nie zugetragen hat, wie ihn wilhelminische Historienbilder gerne dargestellt haben? Die Genese einer neuen christlichen Konfessionsfamilie? Das Auseinanderfallen des christlichen Abendlandes? Ein Wendepunkt in der europäischen Geistesgeschichte? Den Beginn der einzigen Epoche, in der Mitteleuropa eine unauslöschliche Marke für die Geschichte aller Kontinente gesetzt hat?
Was es auch sei – es wird gefeiert: mit einem bundesweiten einmaligen gesetzlichen Feiertag, mit einer Unzahl von Veranstaltungen, mit einem evangelischen Kirchentag in Berlin und Wittenberg, mit der immer wieder gestellten Frage, was denn das Erbe der Reformation sei.
Und wer der Erbe sei. Die evangelischen Landeskirchen? Die ganze Gesellschaft? Die Feiertags-Sonderregelung macht deutlich, dass der Staat die Reformation jedenfalls als ein Ereignis auffasst, das nicht nur die evangelischen Kirchen angeht – andernfalls hätte er seine Kompetenzen durch Bevorzugung einer bestimmten christlichen Konfession deutlich überschritten. Nun stehen die kulturellen wie politischen Folgen der Reformation für die deutsche Geschichte vor aller Augen. Trotzdem ist nicht klar, inwieweit Katholiken, Muslime, Juden oder Atheisten Anlass zum Reformationsgedenken haben sollen. Vor allem wäre es eine spannende Frage, ob diesem Gedenken eine integrative Kraft für die gesamte Gesellschaft zukommen kann, so wie man sie für das Holocaustgedenken postuliert.
Jeder und jede, die dieser Gesellschaft auf Dauer angehört, muss sich mit den Grundtatsachen der deutschen Geschichte auseinandersetzen, sie in gewisser Weise zur eigenen Geschichte machen, auch wenn die Vorfahren mit dieser Geschichte nichts zu tun hatten. Im Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit ist das schwierig, im Bezug auf die Reformation vielleicht einfacher: die durch Luthers Bibelübersetzung geprägte Schriftsprache, die starke Stellung der Länder, also das Fehlen einer unbestrittenen kulturellen Metropole, nicht zuletzt die staatliche Bändigung der organisierten Religion, also der Verzicht auf einen die ganze Gesellschaft dominierenden religiösen Wahrheitsanspruch. Man mag etwa über die staatliche Finanzierung theologischer Fakultäten und Institute an den Universitäten denken wie man will – dass an manchen mehrere (evangelisch, katholisch, muslimisch) schiedlich-friedlich mit staatlich verantworteten Studienordnungen nebeneinander existieren, ist immerhin auch eine Folge der konfessionellen Zersplitterung Mitteleuropas, die ihre Ursache in der Reformation hat. Diese Unterordnung der Religion unter das Gewaltmonopol des Staates und die Friedenspflicht seiner Bürger sind ein wenn auch ungewolltes, so doch bleibendes Erbe der Reformation und der aus ihr und der katholischen Gegenreformation resultierenden Konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts – ein Erbe, das eine freie Gesellschaft unbedingt verteidigen muss.
Soweit Staat und Gesellschaft. Für die evangelischen Landeskirchen stellt sich die Sache deutlich schwieriger dar: Sie können nicht feiern ohne Blick auf die Ökumene, also die katholische Kirche, und sie können sich nicht mehr einfach, wie noch vor einem Jahrhundert, aus dem Gegensatz zur römischen Kirche heraus definieren. Also muss das Gemeinsame wie das Trennende gleichermaßen in den Blick genommen werden, und es ist nur eine Frage der Akzentuierung, ob man in der Reformation mehr den Abschluss eines längeren Reformprozesses der spätmittelalterlichen Kirche sieht, oder Kontinuitäten und Neuansätze unter dem Stichwort „Transformation“ zu gewichten versucht. Die Betonung des Gemeinsamen, der Focus auf das Jahrhundert Luthers jedenfalls birgt die Gefahr, diejenigen Stränge in der Geschichte zu übersehen, die den Protestantismus später endgültig aus den Paradigmen kirchlicher Begründungsmuster heraus- und in die säkulare Moderne hineingeführt haben.
Mit deren Folgen werden sich die deutschen protestantischen Kirchen dann auch bald wieder auseinandersetzen müssen: Seit Jahrzehnten in einer tiefen Krise, werden sie sich nach dem Reformations-Hype auf dem Boden der Tastsachen wiederfinden, die da heißen: Erosion der Mitgliederzahl, schleichender Bedeutungsverlust, Auseinanderdriften der bislang organisatorisch mühsam zusammengehaltenen Flügel. Der Transformationsprozess, in dem sich der mitteleuropäische Protestantismus befindet, ist freilich ein ganz anderer als der von Spätmittelalter und früher Neuzeit – er ist der von einer staatlich privilegierten Volkskirche zu freikirchlichen Strukturen. Am Ende des 21. Jahrhunderts wird es keine Volkskirchen mehr geben, die von Hochmotivierten bis zu solchen, die seit ihrer Taufe nie mehr in einem Gottesdienst gewesen sind, alle umfassen. Der deutsche Protestantismus wird sich auch organisatorisch zersplittert haben in konservative Gruppierungen und Liberale, Gender-Mainstreaming und Fundamentalismus. Er wird kaum noch kulturprägende Wirkung haben, wie er sie in früheren Jahrhunderten (Bach – Lessing – Hegel – Thomas Mann) entfaltet hat. Man wird ihn als geschichtsprägende Kraft ad acta legen können.
Und dürfen. Denn es eignet ihm von Anbeginn an eine selbstzerstörerische, man kann auch sagen: eine sich selbst aufhebende Kraft. Wo die Scheidewand zwischen Profanem und Heiligem eingerissen, wo die weltliche Berufstätigkeit zum Gottesdienst wird, da kommt der Kirche nur noch eine funktionale, aber keine metaphysische und auch keine symbolische Bedeutung mehr zu. Wird dann auch noch – wie es bei Luther in Ansätzen geschieht – der transzendente Gottesbegriff an die Immanenz gebunden, bleibt nur noch eine einzige, eben immanente Wirklichkeit übrig. Die Selbstsäkularisierung ist dem Protestantismus in die Wiege gelegt – dem Weg von Luther über Kant und Hegel bis zur Religionskritik der Junghegelianer eignet eine gewisse sachlogische Stringenz; Ludwig Feuerbach hat sich nicht ohne Recht immer wieder auf Luther berufen. Wenn es auch den evangelischen Kirchen nicht gefallen wird: ihre historische Rolle mag für das letzte halbe Jahrtausend gerade darin gelegen haben, sich selbst überflüssig zu machen. Sie könnten, statt von den Reformationsfeiern eine Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins zu erwarten, sich in eine Idee universaler Freiheitsrechte hinein auflösen in dem stolzen Bewusstsein, eine – wenn auch nicht die einzige – Quelle dieses Freiheitsgedankens zu sein.
Reformationsgedenken hieße dann: eine Kultur der Freiheit in unserer Gesellschaft zu fördern, die eine ihrer Wurzeln immerhin in der Reformation hat. Kurz: Die Zukunft des deutschsprachigen Protestantismus, wie sie seiner Geschichte vielleicht am besten entspricht – das konsequenteste Reformationsgedenken also –, liegt darin, dass er sich in der von ihm mitgeprägten Gesellschaft im dreifachen Hegelschen Sinne aufhebt.