19. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2016

Das Genie und der Föhn

von Jürgen Oskar Brauerhoch

Literaturnobelpreisträger Thomas saß missmutig auf der Terrasse seiner Villa im Herzogpark. Zum zweiten Mal schon hatte er Golo zum Bierholen in die nächste Wirtschaft geschickt. Bei jedem Schluck wunderte er sich, dass er, in dessen Heimat Gerstensaft lediglich zum Nachspülen harter Klarer benutzt wurde, allmählich Gefallen fand an diesem Getränk, ja beinahe an seine mystische Wirkung zu glauben begann – zumindest jetzt bei diesem Wetter. Anfangs hatte er, wie andere Zugereiste, nur unwillig, mit gekräuselter Stirn (seinem später berühmt gewordenen Blick) den albernen Geschichten von angeblichen Föhnleiden oder gar Föhngeschädigten zugehört und sie dem wunderlichen Lokalgeist zugeordnet, der ja – die Geschichte bewies es! – schon manches Irrationale angenommen, ja sich mit ihm identifiziert hatte.
Diese Neigung zur Schwärmerei in der Isarstadt hatte wohl dieser und jener durchschnittlichen Begabung zu einem weit über die Substanz hinausgehenden Leuchten verholfen – vielmehr einem Pseudoleuchten, wohl eher dem fluoreszierenden Geflimmer der bei Tag erbärmlichen Glühwürmchen ähnlich. Aber so war es bei ihm nicht gewesen. Eines Tages hatten sich bei ihm und gerade da, wo er‘s am wenigsten brauchen konnte, Erscheinungen eingestellt, für die er nach mancherlei Konsultationen seines Hausarztes keinen anderen Grund ausfindig machen konnte als die sonderlichen, doch leider typischen Wetterlagen dieser wundergläubigen Stadt.
Es begann mit einer, ihm ungewohnten Schwere der Blutzirkulation, die die jäh abgelöst wurde von irritierenden Wallungen, die sich an kleinen Nichtigkeiten wie der fehlenden Zuckerdose auf dem Frühstückstisch entzünden konnten. Er verfolgte die ihm von Natur aus fremden Gemütssensationen mit einer Mischung aus Missmut und Neugier, glaubte anfangs aber noch immer nicht an ursächliche Zusammenhänge mit Windrichtung, Sonnenintensität, Thermo-, Baro- oder Hydrometer.
Seine den Wettereinflüssen gegenüber ignorante Betrachtungsweise hatte sich erst geändert nach einem Gespräch mit einem über alle Maßen vertrauenswürdigen Freund, der sich – Wissenschaftler durch und durch – seit Jahren aus sicherer Distanz mit biometereologischen Phänomenen befasste. Zu Besuch in München, genoss der Beneidenswerte den sonnigen Herbsttag mit seinem, wie Thomas sich erinnerte, kranken, ja eigentlich „bösen Blau“ eines unglaublich strahlenden Himmels und erzählte ihm unter den die schmerzhafte Helligkeit nur partiell mildernden Kastanien eine bedenkenswerte Geschichte.
„Es ist nämlich erwiesen“, begann er maliziös, nordisch zögernd am Maßkrug nippend, „dass das Gebiet, in das es Dich verschlagen hat, für die menschliche Besiedelung im Grunde höchst ungeeignet ist. Meine Forschungen haben nur Theorien bestätigt, die andere, größere Geister lange vor mir aufgestellt haben. Und was für das gesamte Alpenvorland gilt, trifft im Speziellen für die Isarniederungen vor dem Freisinger Knick zu, weil sich hier ungünstige Einflüsse summieren.
„Und wie erklärst Du Dir“, hatte Thomas damals gefragt,dass alle hier im Biergarten sich anscheinend recht wohl fühlen?“
„Solange sie vorm Bier sitzen“, meinte sein gelehrter Freund, „magst du Recht haben, aber siehst Du, das ist ja gerade das Phänomen: Um den miserablen Umweltbedingungen überhaupt standzuhalten, braucht es nämlich eine Art Dämpfungstherapie durch permanente Hopfenzufuhr! Alle Kräuterkundigen werden Dir bestätigen, dass gerade der Hopfen ein natürliches Beruhigungsmittel gegen atmosphärisch bedingte Stressfaktoren darstellt. Nur dadurch können Föhnlagen einigermaßen überstanden werden!“
Thomas erinnerte sich, dass ihm durch die Worte des Freundes bestimmte Vermutungen durch den Kopf gingen, die er, das gerade zart aufkeimenden Zugehörigkeitsgefühl zur Wahlheimat schonend, mehrmals schon wieder verscheucht hatte. Es war ein ähnlicher Tag wie der heutige gewesen, als ihn zum ersten Male der Gedanke kam, dass die gewisse, durch alle Burschikosität durchschimmernde Heiterkeit seiner Münchner Nachbarn am Biertisch einen ebenso irrationalen Ursprung haben könnten wie andere Gemütsäußerungen, die er noch immer Mühe hatte, in sein hanseatisches Weltbild einzuordnen. Konnte es sein, dass diese Bajuwaren, als sie sich, von rauen Winden gepeinigt, aus ihren böhmischen Wäldern aufmachten gen Süden, an einem Föhntag einbildeten, bereits südliche Gefilde erreicht zu haben …?
Golo, im Matrosenanzug und mit aufgefülltem Maßkrug vor ihm stehend, hatte ihn damals aus seinem Sinnieren gerissen. „Wie geht‘s in der Schule“, hatte er den Sohn gefragt, als ihm nichts anderes einfiel, um mit ihm zu kommunizieren, und Golo berichtete ihm, dass die Lehrerin heute früher Schluss gemacht und alle nachhause geschickt hätte, weil sie von Migräne geplagt sei. „Wo kommen wir denn hin, wenn das Schule …“, hatte Thomas sagen wollen, aber er hielt inne. War seine Lage nicht mit dieser Lehrerin zu vergleichen, einem etwas älteren Fräulein, vor einigen Jahren nach München gekommen, als selbst das bayrische Kultusministerium sich in der arg wachsenden Stadt nolens volens gezwungen sah, auch nicht-bayrische, gar protestantische Lehrkräfte in den Dienst zu stellen. Hatte sie nicht ehrlicher, konsequenter gehandelt als er, der hier seit Stunden über leerem Papier auf der Terrasse saß und sich etwas, und seien es wenige Zeilen, abzwingen wollte, was ein ums andere Mal nicht gelang. Nicht gelingen konnte – unter diesem giftigen Himmel, der Gedanken lähmte, ja, die Gelenke bis in die Fingerknochen hinein, mochte sich sein pflichtbewusstes Ego noch so aufbäumen gegen solche Willkür der Natur.
„Mein Gott“, dachte er. Und: „Lotte in Weimar, was wusste die von den Problemen eines geistig Schaffenden in dieser Stadt, in dieser Luft, die auch ihre Geistreicheleien eingeschläfert hätte, verpackt in Watte, alles aufsaugend, bevor es Gestalt gewinnen konnte. Was hätte wohl Goethe“, schoss es ihm durch den Kopf. Dieser Gedanke gab ihm für einen Moment noch einmal letzte Kraft. Nur einen einzigen Satz zu Papier bringen, dann aber ab in den Englischen Garten, zum Biergarten am Chinesischen Turm. Und mit zittriger Hand setzte er auf, was hernach oft missverstanden oder für plumpe Werbung ausgenutzt wurde: München leuchtete.