18. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2015

Kriegstreiber

von Bernhard Romeike

Die internationale Lage verschärft sich weiter. Die Konflikte nehmen zu. Da gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine ist einzuhalten, die Lage besonnen zu überprüfen und politisch eine Umkehr zu erwirken. Die andere ist: Jetzt erst recht die westliche Macht- und Interessenpolitik fortzusetzen, um welchen Preis auch immer. Auch wenn immer mehr nach militärischen Mitteln gerufen wird.
Selbst die Erfahrungen des Kalten Krieges werden inzwischen beiseite zu schieben versucht und stattdessen wird eine Politik der Stärke gefordert. Die Präsidenten der USA, Barack Obama, und Russlands, Wladimir Putin, hatten vereinbart, dass die Generalstäbe beider Streitkräfte regeln, wie ihre Militärflugzeuge über Syrien so agieren, dass es nicht zu einem Konflikt zwischen beiden Seiten kommt. Chris Christie dagegen, Gouverneur von New Jersey und einer der aktuell 14 Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei, hat deshalb Obama „ein Weichei“ genannt. Wäre er, also Christie, Präsident, würde er einseitig eine Flugverbotszone über Syrien verhängen mit der Maßgabe, alle Flugzeuge, die dagegen verstießen, abzuschießen. Auch russische. Die Gefahr eines Krieges zwischen den USA und Russland hatte er nicht etwa ignoriert, sondern bewusst einkalkuliert: „Wir haben immense Mittel gebraucht und sehr viel amerikanisches Blut vergossen, um die Sowjetunion zu eliminieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie zurückkommt.“ Die kommt nicht wieder. Aber das alte große Russland ist immer noch da. Es hat auch das Ende der Sowjetunion überstanden und sortiert sich, seine Interessen und seine Weltpolitik neu. Jetzt auch in Syrien.
Auch im alten Europa finden sich Leute, die gegen Russland die Alarmglocke läuten. Bernard-Henri Lévy ist einer davon. Er war einer der „neuen Philosophen“, die seit den 1970er Jahren alle linke Philosophietradition, nicht nur Marx und die auf ihm fußende, auch Sartre und die Poststrukturalisten als antihuman denunziert haben. Zudem ist er einflussreicher Journalist und Publizist. Im Frühjahr 2011 gehörte er zu jenen, die Präsident Sarkozy zum Libyenkrieg drängten und den Sturz Gaddafis als Kriegsziel proklamierten, entgegen allen UNO-Beschlüssen.
Jetzt also Russland. Der Text nimmt zunächst diejenigen aufs Korn, die bisher nur „Putin-Versteher“ hießen. Bei Lévy ist es „Moskaus fünfte Kolonne“. Im Untertitel heißt es: „Die unerträgliche Blindheit der westlichen Putin-Apologeten“. Ein Versteher versteht nur, oder versucht es zu tun. Der Apologet ist viel schlimmer, er verteidigt aktiv. Zunächst behauptet Lévy, „die Apologeten Russlands“ würden sich in ganz Europa ausbreiten. Diese nennt er aber nicht nur Apologeten, sondern eine „Gefolgschaft“, gar „eine fünfte Kolonne“, also eine Formation, von Moskau aus gelenkt. Das seien nicht nur die „üblichen Verdächtigen der extremen Linken oder Rechten“, sondern auch viele andere „Parteimitglieder“. Man erkenne sie zum Beispiel daran, dass sie den Besuch Assads bei Putin nicht verdammen oder auch nicht die russischen „Bombardements“ in Syrien. Vor allem aber würden sie „das Motiv hinter Putins bewaffneter Diplomatie […] einfach ignorieren“. Das bestehe darin, „an jenen Rache zu nehmen, die in seinen (also Putins B.R.) Augen für den Untergang der Sowjetunion verantwortlich waren“.
Welche Argumente aber sprechen nach Lévy für einen solchen Rachefeldzug? Zuerst nennt er Putins Aussage, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei eine der größten geopolitischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gewesen. Ja, und? Das ist eine Tatsachenfeststellung. Sie sagt nicht, dass Russlands Führung glauben würde, das im Nachgang rückgängig machen zu können. Dann verweist er auf den kolportierten Satz Putins dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko gegenüber, wenn er gewollt hätte, hätten die russischen Truppen binnen zwei Tagen nicht nur in Kiew, sondern auch in Vilnius oder Tallinn sein können. Und? Wenn Putin das so gesagt haben sollte, wäre der Sinn genau das Gegenteil: Ich wollte und will es nicht, auch wenn ich gekonnt hätte.
Schließlich folgt in Lévys Aufzählung ein positiver Bezug Putins auf den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939. Lévy unterstellt, Putin würde die nachfolgende Annexion Polens und später weiter Teile Osteuropas loben. Unter der von Lévy angegebenen Quelle findet man nichts dergleichen. Tatsächlich wiederholt Putin nur die alte sowjetische Staatspropaganda, dass die Westmächte mit dem Münchner Abkommen ihre Vereinbarung mit Hitler gegen die Sowjetunion trafen, und deshalb hätte die sowjetische Politik, weil sie nicht Krieg führen wollte, dies durchkreuzt habe, indem sie einen eigenen Nichtangriffspakt mit Hitler schloss. Und er fügt sogar hinzu: „Das waren damals die außenpolitischen Methoden.“ Auch daraus folgt nichts für die Gegenwart.
Es kommen dann die üblichen Verweise auf die vorgeblichen oder tatsächlichen Verletzungen des Luftraums osteuropäischer Länder durch russische Militärflugzeuge, die ukrainische Zivilgesellschaft, die „Verfolgung von Homosexuellen“. Schließlich wird Angst geschürt: Neue russische Raketen konnten vom Kaspischen Meer aus auf Ziele in Syrien abgeschossen werden. Und trafen auch. Die neuen russischen Waffen haben vor allem mit der Aufrechterhaltung eines militärischen Gleichgewichts zu tun, wobei die Vorrüstung stets von den USA ausging. Am Ende insinuiert Lévy, man müsse Texte über die Geschichte des Kommunismus lesen, um die Lage zu verstehen. Er hätte lieber Bücher über russische Außenpolitik seit Peter dem Großen lesen sollen. Den selbsterklärten „Siegern der Geschichte“ von 1989 fällt es offenbar noch immer schwer, dass es wieder mächtige Akteure in der Weltpolitik gibt, die ihnen nicht Untertan sind.
Der Lévy-Text erschien am 3. November 2015 in dem Journal Internationale Politik und Gesellschaft, das online von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben wird. Sind deren Macher jetzt in das Lager der Kriegstreiber übergetreten? Oder wollten sie „nur“ die Außenpolitik des sozialdemokratischen deutschen Außenministers konterkarieren?