18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

Immigration und Ökonomie

von Stephan Wohanka 

„Denn wir wollen kein ,anderes Land‘, wir wollen unser geliebtes Deutschland“, das sind die Worte eines Bloggers der eher rechten Szene. Nun kann man das „geliebte Deutschland“ kulturell, ökonomisch, religiös und was der Optionen mehr sind, definieren; das Zitat gibt keinen Fingerzeig. Ich will mich selbstermächtigt auf das Ökonomische konzentrieren. Der gleiche Autor schreibt: „Im März (2015 – St. W.) forderte die Bertelsmann-Stiftung, wir bräuchten bis 2050 jährlich bis zu 500.000 Einwanderer von außerhalb Europas, damit wir unseren Wohlstand bewahren könnten. Nur weil die Bundesregierung ernsthaft von der Notwendigkeit dessen überzeugt ist, ließ sie den Asylansturm zu und verlor letztendlich die Kontrolle darüber. Merkel wird nun bis zur Bundestagswahl 2017 dafür sorgen, dieses angeblich optimale Niveau der außereuropäischen Zuwanderung zu erreichen und dann aufrechtzuerhalten“. Im Übrigen lässt der Text keinen Zweifel an den „Nachteilen der Masseneinwanderung“. Deutlicher, ja brutal hat auch Botho Strauß gleiche Vorbehalte geäußert: „Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demografischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird, einem vitalen“.
Vor Jahren verfolgte ich im Fernsehen eine Talkshow. Teilnehmer waren eine damals noch relativ junge rotgelockte Schriftstellerin und Olaf Henkel, neben anderen Leuten aus der Wirtschaft. Die junge Dame trällerte kirschmündig daher, dass es gar nicht so schlimm wäre, wenn Deutschland in einiger Zukunft nur noch 50 oder gar 40 Millionen Einwohner zähle; bei der weltweiten Überbevölkerung eher ein Segen denn ein Fluch. So etwa. Keiner der Herren widersprach. Ich dachte damals schon: Warum geben die Herren ihr nicht Kontra, als Kundige in Sachen Ökonomie müsste ihnen doch klar sein, welche Botschaft da gerade verbreitet wurde.
Spielen wir das Szenario durch: Was wären, käme es dazu, die ökonomischen Folgen eines derartigen „Aussterbens“?
Aus dem anfänglich schleichenden Bevölkerungsrückgang wird ein sich selbst verstärkender Schrumpfungsprozess: Weniger geborene Kinder sind (noch) weniger potenzielle Eltern. So verstärkt sich der Prozess; es sei denn, die Nachkommen hätten drei oder vier Kinder, um diesen Prozess aufzuhalten, was aber höchst unwahrscheinlich ist. Um in ausgereiften Volkswirtschaften wie der deutschen, die schon länger nicht mehr an Bevölkerung hinzugewinnt, den materiellen Wohlstand weiter zu mehren, müsste die Produktivität in Zukunft schneller steigen, als der Arbeitseinsatz zurückgeht. Aber das Gegenteil ist der Fall – die Produktivität steigt langsamer. Entsprechend wächst unsere Wirtschaft immer langsamer, im Zehnjahresmittel nur noch um ein Prozent; so beträgt der Zuwachs heute nur noch ungefähr ein Drittel des Wertes zwischen 1970 und 2000. Und warum sollte sich dieser Trend umkehren, wenn bald schon die Babyboomer ins Rentenalter wechseln und sich dann das Schrumpfen beschleunigt?
Kleiner werdende Gesellschaften sind zugleich alternde, die Alterspyramide nimmt die markante Form einer Urne an. Das löst entsprechende Transformationen werden aus: Soziale und technische Strukturen, einmal für rund 80 Millionen Menschen aufgebaut, müssen jeweils an die Verringerung der Bevölkerung und ihre Altersstruktur angepasst werden, was sich vor allem in strukturschwachen und ländlichen Räumen bemerkbar macht: Technische Infrastrukturen wie Straßen, Strom- und (Ab)Wasserleitungen sind überdimensioniert und werden teurer in der Unterhaltung, soziale Infrastrukturen wie Krankenhäuser, Versorgungseinrichtungen oder Schulen verschwinden ganz. Demografisch schrumpfende, strukturschwache Regionen liegen neben Gebieten, die wirtschaftlich und demografisch (noch) wachsen; soziale Entmischung ist die Folge. Nicht nur, dass immer mehr Geld für Sozialleistungen wie Alterssicherung, Gesundheits- oder Betreuungskosten aufzuwenden ist, und dies bei rückläufigem Anteil von Erwerbspersonen zu Leistungsempfängern; nein, wegfallende Verteilungsspielräume können für sozial schwache Menschen so einschneidende Folgen nach sich ziehen, dass die Gefahr des Ausbruchs innerer Unruhen mit Erstarken extremistischer politischer Gruppen droht.
Eine alternde Gesellschaft verfügt nicht mehr über so viele junge Menschen, die frisch ausgebildet und in den neuesten Technologien geschult in den Arbeitsprozess drängen; Junge, die bereit sind, Wagnisse im Sinne der Schumpeterʼschen „Pionierunternehmer“ einzugehen. Eine spezifischere Betrachtung zeigt, dass bei den höchstqualifizierten Bevölkerungsgruppen (die den Großteil ihrer Zeit in Ausbildung und Karriere und nicht in Familie und Kinder investieren) die Geburtenraten zuerst zurückgehen. Dieses Problem ist in Deutschland akut und befeuert den Mangel an hochqualifizierten Fach- und Führungskräften. Bekanntermaßen konkurrieren Länder mehr und mehr um hochqualifizierte Fachkräfte, wobei für die Attraktivität der Länder die Sozial- und Migrationspolitiken die entscheidende Rolle spielen. Die Länder des anglo-amerikanischen Raumes haben ihre Migrationspolitik aktiv darauf ausgerichtet, qualifizierte Arbeitskräfte anzuwerben („skilled immigration“) und sind damit auch in Deutschland erfolgreich. Daraus folgt die Verstärkung eines Trends zur Dequalifizierung, der die Innovationskraft unseres Landes weiter schwächen dürfte.
Alternde und kinderarme Gesellschaften neigen darüber hinaus zu mehr Konsum statt Investitionen, haben doch viele Menschen keine Kinder, deren Zukunft ihnen am Herzen liegt, ja eine gewisse Kinderfeindlichkeit macht sich breit. Trotz schrumpfender finanzieller Spielräume wird mehr für Soziales, namentlich im Rentenbereich und weniger für Infrastruktur, Bildung sowie Forschung ausgegeben. Es ist politisch bequemer, investive Ausgaben zu streichen – zudem die Bürger dies erst langsam merken, wenn überhaupt. Kaputte Straßen werden noch schnell moniert, Lehrermangel merkt nur noch ein Teil der Bevölkerung und wirkt sich ebenso wie fehlende Forschungsförderung erst in Jahrzehnten aus.
Die späte Folge all dessen sind leerstehende Häuser, ebensolche Produktionsstätten und Firmen, städtische Brachen, verödete Landstriche. Solche Bilder kenne ich bisher nur aus den USA. Normalerweise sind Immobilien für Banken bei Kreditvergaben die bevorzugten Sicherheiten; sowohl im kommerziellen als auch privaten Sektor. Als „Leerstände“ verlieren sie diesen Charakter und kommen als Sicherheiten nicht mehr infrage; auch nicht als Alterssicherung. Finanzierungen werden erschwert oder kommen nicht mehr zustande, was sich insgesamt höchst negativ auf die reproduktiven Kreisläufe hierzulande auswirkt…
Soll das die Vision des „geliebten Deutschlands“ sein? Wir könnten einen derartigen Schrumpfungs- und Alterungsprozess unserer Gesellschaft über Immigration nicht völlig kompensieren, sollten aber trotzdem alles tun, ihn so wenig folgenreich wie möglich für unsere Zukunft werden lassen; auch über Immigration: Willkommen in Deutschland!