18. Jahrgang | Sonderausgabe | 20. April 2015

Der Eid des Hippokrates unter SS-Stiefeln

von Achim Katt

Was verbindet Aribert Heim mit Josef Mengele? Beide Männer waren Mediziner, machten nach 1933 Karriere in der SS und nutzten ihre Position als Lagerärzte in Konzentrationslagern für unvorstellbar grausame Verbrechen an Häftlingen. Noch eins eint beide Mörder in schwarzer Uniform und weißem Kittel: Sie wurden für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit nie vor Gericht gestellt. Mengele, der berüchtigte „Todesengel“ von Auschwitz, starb 1979 in Brasilien ebenso unbehelligt wie Aribert Heim, der von den Inhaftierten des KZ Mauthausen „Doktor Tod“ genannt wurde, 1992 in Ägypten.
Beide vereint ferner, dass überlebende Häftlinge im einen wie im anderen Fall betonten, dass Mengele und Heim ansehnliche Männer und gepflegte Erscheinungen, keineswegs Monster gewesen seien. Mengele trug, wenn er in Auschwitz die Ankommenden selektierte, weiße Handschuhe und machte, derweil er die einen Häftlinge ins Lager und die anderen in die Gaskammern schickte, Bewegungen wie ein Dirigent. Heim wiederum beeindruckte allein schon durch seine Körperstatur. Er war Eishockeyspieler, der sogar im Kader der österreichischen Nationalmannschaft gestanden hatte.
Die Biografie Mengeles, der mit Vorliebe Experimente an Zwillingskindern vornahm, ist inzwischen rundum aufgearbeitet. Für Aribert Heim fehlten bislang vergleichbare Studien, obwohl er – nachdem Adolf Eichmann 1961 durch den israelischen Geheimdienst Mossad in Argentinien gefasst worden war – als der meistgesuchte NS-Verbrecher galt. Ironie der Geschichte hier wie dort: Wenn die Weltgemeinschaft es nur mit entsprechend großem Nachdruck versucht hätte, dann hätten sowohl Mengele in Südamerika als auch Heim in Nordafrika zweifellos ausfindig gemacht werden können.
Die US-amerikanische Journalisten Nicholas Kulish und Souad Mekhennet erzählen in „Dr. Tod – Die lange Jagd nach dem meistgesuchten NS-Verbrecher“ die Lebensgeschichte des Arztes Aribert Heim. Die Autoren verknüpfen die Ausführungen zu ihm mit Kapiteln, die sich wechselnd mit Heims Familie beschäftigen, die nach der Flucht des NS-Mörders in Deutschland zurück blieb, mit Passagen, die von Alfred Aedtner erzählen, jenem Kriminalisten, der Heim aufspüren und dingfest machen wollte. Auch aus Protokollen von Befragungen ehemaliger KZ-Häftlinge, die Zeugen von Heims Grausamkeiten geworden sind, wird zitiert. Seitenblicke gebühren auch Simon Wiesenthal (1908-2005) und Tuviah Friedman (1922-2011), die es sich nach 1945 zur Lebensaufgabe gemacht hatten, NS-Verbrecher zu finden und der Justiz zu übergeben. Während Wiesenthal selbst Häftling im KZ Mauthausen war, wurde Friedmans gesamte Familie mit Ausnahme seiner Schwester im KZ Treblinka ermordet.
Dass Aribert Heim im kollektiven Bewusstsein weit weniger gegenwärtig ist als etwa Josef Mengele bedeutet nicht, dass Heim als KZ-Arzt in Mauthausen weniger bestialisch zu Werke gegangen sei als Mengele in Auschwitz. Die Verbrechen, die beide zu verantworten hatten, waren unvorstellbar. Doch die Täter selbst haben von ihren Menschen-Experimenten berichtet. Im Buch werden die bestialischen Behandlungen, die Häftlinge durch Heim erfuhren, vor allem durch Zitate früherer Häftlinge berichtet. Denn es zeigt sich bald: Aribert Heim war ein Massenmörder, der keinerlei Skrupel kannte, obwohl auch er einmal den Eid des Hippokrates geleistet hatte, wo es unter anderem heißt: „Ich werde ärztliche Verordnungen treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden.“ Mediziner wie Mengele und Heim jedoch traten den medizin-ethischenEhrenkodex mit ihren Stiefeln.
Heim hatte eine perverse Vorliebe für Totenschädel. Diesen an seiner SS-Mütze zu tragen, genügte ihm aber nicht. Also ließ er Häftlinge mit schön geformten Köpfen und vollständigem Gebiss töten, die Schädel auskochen, um sie im Kreis seiner SS-Kameraden als Schreibtischschmuck zu verteilen. War er eines Häftlings überdrüssig, dann tötete er diesen, in dem er ihm Benzin ins Herz spritzte. Als ihn einmal ein jüdischer Versuchshäftling, dem bereits ein Narkosemittel verabreicht war, „Mörder“ nannte, holte Heim, so berichtet ein Augenzeuge, ihn wieder ins Bewusstsein zurück und erklärte dem Häftling, warum die Juden schuld am Krieg seien. Nach seinem Sermon tötete Heim den Mann.
Kulishs und Mekhennets Buch ist ein bedeutender Beitrag zur Geschichte des Nationalsozialismus im Allgemeinen und zu Hitlers willigen Vollstreckern, zu denen auch Heim gehörte, im Speziellen.

Nicholas Kulish / Soud Mekhennet: Dr. Tod – Die lange Jagd nach dem meistgesuchten NS-Verbrecher, Verlag C.H. Beck 2015, 350 Seiten, 22,95 Euro.