18. Jahrgang | Nummer 7 | 30. März 2015

Denken und Glauben*

von Fritz Brupbacher

Der Revoluzzer, der militante Individualist, ist ein umso nötigeres Geschöpf, als der Durchschnitt der Menschen sich nur in der Munt (Rechtsschutz, Schirm, Vormundschaft – d. Red.) eines Herrn, womöglich eines strengen Herrn, wohlbefindet. Der einfachste Herr des Menschen ist die Tradition, sind die Regeln, die wir durch unsere Umgebung, als Erbe der Erfahrungen der Menschheit, übernehmen. Niemand von uns kann auf diese Tradition ganz verzichten. Sonst müßte er sein Leben nochmals als „Urmensch“ beginnen.
Mit diesen Traditionen ausgerüstet, gehen wir ans Leben heran, richten uns nach ihnen, bilden sie aber auch fort. Das erheischt Anwendung von eigenem Denken. Oft hat man zu diesem Denken nicht das gehörige Zutrauen, mitunter mit Recht. Auf Spezialgebieten suchen wir wirklich mit Recht die Autorität, die in der Spezialität ausgebildet ist.
Wenn wir in den allgemeinverständlichen Gebieten, welche wir selber durchdenken können, die eigene Denkarbeit unterlassen und uns irgendeinem Menschen anvertrauen, ihm einfach glauben, ohne ihn irgendwie zu kontrollieren, so ersetzen wir Denken durch Glauben, werden Sklaven der Gedanken anderer. Das geschieht besonders in bezug auf die konventionellen Regeln der Gesellschaft und in bezug auf die Politik. Da sucht der Mensch den Zauberer, der ihm seine Aufgabe abnimmt, vertraut sich ihm an, wie das Kind den Erwachsenen. Der Führer, Duce, wird dann die eigentliche Willenssubstanz des Menschen: Der Mensch wird passiv. Er wird passiv, wie die Leiche in den Händen des Leichenwäschers. Aus Faulheit und Gedankenarmut läßt man den Führer für sich denken und zahlt dafür die Steuer des absoluten Gehorsams.
Faulheit und Phantasie zusammen heben den Führer und seine Macht in den Bereich des Phantastischen. Es ist dem Menschen angenehm, sich vorzustellen, daß so ein mächtiges Wesen für ihn, den armen Wurm, sorge, sich um ihn kümmere. Auch ist es furchtbar bequem, gar nicht selber denken zu müssen, einen besorgten Vormund zu haben. Einen Marx, einen Lenin, einen Stalin oder auch einen Mussolini, einen Hitler und wie sie alle heißen und noch heißen werden.
Mit ganzem Herzen verteidigt der faule und gedankenarme Sklave seinen so nötigen und darum heißgeliebten Verstandesersatz Führer. Schreibt ihm unendliche Heldeneigenschaften, Denkfähigkeiten, Allmacht, Allgüte, Allwissenheit zu. Vergottet ihn. Wer im eigenen Kopf kein Zentrum hat, sucht sich eines außerhalb.
Der Führer gibt Gewißheit, Frieden. Er ersetzt den Glauben an uns selbst durch den Glauben an höhere Kräfte. Wie der Kranke vom Arzt nicht will, daß er ihm diverse Vorschläge mache, aus denen er, der Patient, dann die Wahl treffen soll, so will der Mensch in der Politik nicht einen wissenschaftlichen Berater, sondern einen, der ihn leitet, ja sogar unter Zwang setzt.
Glaube ist dem Menschen lieber als Wissen. Oder das Wissen soll nur den Glauben stärken, ihn auch dem Verstand mundgerecht machen. Verlust des Glaubens wird als Kraft-, als Sicherheitsverlust empfunden; deshalb wird das Volk so wütend, wenn jemand versucht, ihm seinen Helden zu „enthelden“. Deshalb sucht das Volk, sobald eine Autorität entthront ist, sofort wieder nach einer andern. Nur nicht selber denken. Nur nicht auf sich selber angewiesen sein.
Je weniger Selbstbewußtsein das Leben gibt, umso sklavischer wird der Mensch. Als man in der Zeit des untergehenden Roms nicht ein noch aus wußte, versetzte man die Kaiser unter die Götter. Die Erschöpfung der Russischen Revolution schuf den Stalinkult. Die ökonomisch-politische Hilflosigkeit den Mussolini- und den Hitler-Führerkult.
Not macht idiotisch, bricht den Glauben des Menschen an sich selbst. Verstärkt den latenten Drang, geführt, beherrscht, geleitet zu werden.
Als die Arbeiterschaft noch selbstbewußter war, wollte sie sich selber leiten, selber führen, hatte anarchistische, freiheitliche Tendenzen. Je mehr sie durch Auswechselbarkeit und Bedeutungslosigkeit im Produktionsprozeß an Selbstbewußtsein verlor, so daß sie schließlich nur noch durch die Krise herunterkam, umso lenksamer, der Lenkung bedürftiger, diktaturwilliger wurde sie.

Der Text ist dem 1946 im Verlag Oprecht, Zürich, erschienenen Buch von Fritz Brupbacher „Der Sinn des Lebens“ entnommen. Brupbacher (1874 – 1945) war ein Schweizer Arzt, libertärer Sozialist und Schriftsteller. 1933 wurde der Kritiker Stalins wegen „völlig antimarxistischer anarchistischer Einstellung“ aus der Kommunistischen Partei der Schweiz ausgeschlossen.

* – Der Titel dieses Textes ist redaktioneller Herkunft.