17. Jahrgang | Nummer 25 | 8. Dezember 2014

Reminiszenz an Otto Reutter

von Thomas Zimmermann

Manchmal findet sich unter alten Schallplatten auf Großvaters Dachboden, noch öfter in etwas abseits stehenden CD-Kästen in irgendeiner Stadtbibliothek der Name Otto Reutter. Die Cover auch der jüngsten Zusammenstellungen muten etwas altertümlich an. Das hat System – und trägt dazu bei, dass der Entdecker nicht selten zunächst ratlos ist, was er mit dem Fund anfangen soll: Wie lebendig mögen die Zeitkritik der zwanziger Jahre, wie amüsant der alte Witz, wie modern noch diese Musik noch sein? Wer den Versuch wagt, hört vielleicht den „Blusenkauf“, „Nehm Se n’ Alten“ oder den „Überzieher“ – und muss unweigerlich lachen. Schon Kurt Tucholsky bekannte 1932, beim Hören von Otto Reutters Liedern „eine ganze Nacht verlacht“ zu haben. Hinterher steht man halb amüsiert, halb irritiert über den eigenwilligen Humor und seine seltsam zeitlose Wirkung da. „Eine merkwürdige Lektüre“, murmelte einst Tucholsky und viel weiter sind die Hörer und Erforscher von Reutter bis heute im Grunde auch nicht gekommen.
Er kam aus Gardelegen – und damit ist eigentlich schon alles gesagt, zumindest für jeden, der schon einmal in Gardelegen gewesen ist. Gardelegen ist heute mit seinen gerade einmal 20.000 Einwohnern der Fläche nach die drittgrößte Stadt Deutschlands. Um 1870, als Otto Reutter dort geboren wurde, zählte Gardelegen nur 6.000 Seelen; das Land, die Sprache und selbst manch‘ Geist waren aber ähnlich platt wie heute, vielleicht sogar – wie unvorstellbar! – noch platter. In so einem Milieu gibt es von Kindheit an nur zwei Optionen: sich anzupassen, einzufügen und zu versauern – oder den Ausbruch.
Reutter wählte ebendiese Flucht nach vorn. Weg von dem hirnlosen Elternhaus, der katholischen Volksschule und der beengten Lebensperspektive eines Kaufmanns zog er nach Berlin, um dort sein im elterlichen Hinterhof vor Nachbarskindern probiertes Schauspieltalent auszuleben. Die Karriere des später bekanntesten Coupletdichters deutscher Zunge begann allerdings recht unspektakulär im Obdachlosenasyl in Berlin und führte ihn schnell wieder in die Provinz zurück: In Karlsruhe verdingte sich Reutter als Büroschreiber und Ghostwriter eines ambitionierten Buchhändlers. Nebenbei suchte er den Kontakt zur örtlichen Kabarettszene und trat als Schauspieler und Sänger seiner eigenen Texte auf. Bald tingelte er in verschiedenen Künstlergruppen durch das Land, nach Bern, Düsseldorf, Hamburg – und Berlin. Mal als Amme in Spreewaldtracht, mal als konservativer Reichstagsabgeordneter stand Reutter auf der Bühne und gab Ulk und augenzwinkernde Kritik am Allzumenschlichen zum Besten. Ab 1896 war er am Apollo-Theater, ab 1899 am legendären Wintergarten engagiert.
Dreißig Jahre sollte der Komiker aus der Provinz mit seinen vielseitigen Schauspielkünsten auf dieser Bühne stehen. Daneben tourte Reutter immer wieder ausgedehnt durch die Kabaretts und Varietés erst des Kaiserreichs und dann der Republik: Meist trat er in ausverkauften Häusern auf, immer in höchsten Tönen besprochen. Kaum ein Unterhaltungskünstler blieb angesichts des sich wandelnden Publikumsgeschmacks über eine so lange Zeit populär, kaum einer bediente die neuen Massenmedien wie den Film, das Hörspiel und den Rundfunk so geschickt wie Otto Reutter.
Natürlich gab es auch Tiefen in der so unbeschwert wirkenden – und als solche medienwirksam inszenierten – Karriere, zeigten sich bei genauerer Betrachtung einige hässliche Tapetenrisse am perfekt ausgeleuchteten Bühnenbild, vor dem Reutter allabendlich auftrat. Privat kam es nie zu einer vollkommenen Aussöhnung zwischen dem Künstler und den Eltern. Als die lange Zeit über bettlägerige Mutter 1895 verstarb, stand der Sohn in Düsseldorf auf der Bühne; ihrer Beerdigung blieb er fern, um die Vertragsbedingungen seines Engagements zu erfüllen. In der Öffentlichkeit zeigte sich Reutter äußerst kriegsbegeistert, erst der Tod seines Sohnes an der Westfront 1916 brachte den Dichter von der Kriegslyrik ab. Des Geldes wegen – das Kreuz der Künstler, erst recht jener aus einfachen Verhältnissen – besang Reutter später selbst Notgeld und Krügerol-Bonbons.
Fluch und Segen der Provinz: Sie bringt Menschen hervor, die sie mit aller Macht zu überwinden, sich von ihr zu befreien trachten, und deren Gabe gerade darin besteht, die Provinz mit sich zu nehmen. In Berlin, in allen deutschen Großstädten, brachte Reutter immer Figuren auf die Bühne, besang Eigenheiten, die er von Gardelegen her kannte oder deren er sich durch seine in der Heimatstadt geschulte Beobachtungsgabe annehmen konnte. Deshalb tat Gardelegen gut daran, einen Platz, eine Schule und die örtliche Jugendherberge nach Reutter zu benennen. Das klingt vielleicht nach wenig, aber wer je in Gardelegen war, weiß, dass mehr fast nicht drin ist.
Bis zuletzt stand Reutter auf der Bühne: allabendlich vierzig Minuten, in denen er bis zu zehn seiner mehr als 1.000 Lieder (natürlich auswendig) vortrug – eine geistige Leistung, die keine Störung vertrug. Wenn während Reutters Vortrag im Publikumsraum zu laut serviert wurde, verließ der Künstler kurzerhand die Bühne. Zwei Herzinfarkte lächelte er als Asthmaanfälle weg. Im März 1931 warf ihn ein über viele Jahrzehnte ausgebeuteter Körper dennoch um. Reutter verstarb im Alter von nur 60 Jahren. In Berlin braucht es indes keine Straße, um seiner zu gedenken. Noch heute füllt ein Reutter-Abend so manchen Saal, übrigens nicht nur in dieser Stadt.

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