17. Jahrgang | Nummer 24 | 24. November 2014

Am Ende nichts?

von Hubert Thielicke

Der Afghanistankrieg geht in die nächste Runde. Die ISAF-Kampftruppen ziehen ab, die Folgemission „Resolute Support“ bleibt. Nach 13 Jahren Krieg ist eine Bilanz dringend erforderlich. Was hat die längste und wohl auch teuerste Aktion zur „Stabilisierung“ eines Landes gebracht? Welche Perspektiven gibt es für Afghanistan und die Region? Wie soll es dort nach dem Abzug der NATO/ISAF-Truppen weitergehen?
Es mutet an wie eine unendliche Geschichte. Afghanistan war seit Jahrhunderten ein umstrittenes, unsicheres Territorium im Herzen Asiens. Das zeigt schon ein Blick auf die letzten 200 Jahre. Das Britische Weltreich handelte sich dort blutige Niederlagen ein, die Sowjetunion scheiterte bei dem Versuch, das Land unter Kontrolle zu bringen. Nun müssen sich auch NATO und die anderen ISAF-Teilnehmer eingestehen, dass Afghanistan ein schwieriges Pflaster ist. In jüngster Zeit haben die Aktivitäten der Taliban zugenommen; sie sind heute fast in allen Provinzen aktiv. Es besteht die Gefahr, dass ihnen große, von den USA hinterlassene Waffenvorräte in die Hände fallen. Das Land droht im Chaos zu versinken.
Bundeswehrsoldaten werden zunächst weiterhin dort bleiben; jedenfalls ist im Vertrag über die Große Koalition die Rede von „einer angemessenen Beteiligung Deutschlands im Rahmen einer Beratungsmission unter NATO-Führung“. Seit ein Verteidigungsminister die deutsche Sicherheit am Hindukusch verteidigen wollte, gab es viele Versuche, den Einsatz zu rechtfertigen. Euphemismen wie „Friedensmission“ und „Stabilisierungseinsatz“ machten die Runde. Spätestens seit 2009 bei dem von einem Bundeswehroffizier angeordneten Bombenabwurf mehr als 100 afghanische Zivilisten starben und in den letzten Jahren mehr als 50 deutsche Soldaten und Polizisten fielen, dürfte auch dem letzten Bundesbürger klar geworden sein, worum es sich in Afghanistan handelt: Krieg.
Bilanzen dieses Krieges fallen, je nach politischer Sichtweise, naturgemäß unterschiedlich aus. Mehr oder weniger Übereinstimmung besteht jedoch darin, dass Afghanistan ein armes, instabiles Land bleibt, trotz horrender Summen, welche die internationale Gemeinschaft in den letzten 13 Jahren ausgegeben hat, leider zum überwiegenden Teil für militärische Zwecke. Die zunächst von USA und NATO proklamierten Demokratisierungsziele wurden dem „Krieg gegen den Terror“ untergeordnet. Doch selbst der bisherige Präsident Hamid Karzai musste im Oktober 2013 feststellen, dass „an der Sicherheitsfront das ganze NATO-Unternehmen Afghanistan eine Menge Leiden […] und keinen Zugewinn brachte, denn das Land ist nicht sicher“.
In dem jetzt bei WeltTrends erschienenen Sammelband „Krieg in Afghanistan – Bilanz und Ausblick“ diskutieren Experten aus Deutschland und der Region die Zukunft Afghanistans nach dem Abzug der internationalen Truppen. Thomas Ruttig, seit vielen Jahren im Lande tätig, nimmt eine schonungslose Analyse vor: Die ursprünglich anvisierten Ziele wurden verfehlt, ein dauerhafter Frieden ist nicht in Sicht. Während Diethelm Weidemann den Afghanistan-Konflikt in seiner historischen und breiteren regionalen Dimension betrachtet, analysiert Said Reza Kazemi (Afghanistan) die Auswirkungen auf die zentralasiatischen Staaten.
Für Russland und die postsowjetischen Staaten der Region verbinden sich mit Afghanistan vor allem die Gefahren von Terrorismus und Extremismus sowie das Drogenproblem. Das machte Igor Morgulov, Stellvertretender Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Russischen Föderation, im Interview deutlich. Trotz der derzeitigen schwierigen Beziehungen mit dem Westen hält Russland an der Kooperation zu Afghanistan fest, was übrigens auch für die E3+3-Gespräche zum iranischen Nuklearprogramm, den Kampf gegen Radikalismus und Terrorismus im Nahen Osten und Zentralasien sowie die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen gilt. Muzaffar Olimov (Tadschikistan) analysiert die Probleme, die dem kleinen Nachbarland durch die Afghanistan-Krise entstehen. Es bedarf dringend der internationalen Unterstützung, sowohl im regionalen Rahmen als auch durch Organisationen wie die OSZE.
Auch künftig werden die drei Regionalmächte Indien, Pakistan und Iran eine besondere Rolle hinsichtlich der Entwicklung in Afghanistan spielen. Shanthie Mariet D`Souza (Indien/Singapur) untersucht die Interessen und das Engagement Indiens, worüber in Deutschland bisher wenig bekannt wurde. Während Pakistan großen Einfluss auf die Volksgruppe der Paschtunen im Süden des Landes ausübt, spielt Iran eine wichtige Rolle für die Region um Herat im Westen. In seinem Beitrag legt Karl Fischer, letzter DDR-Botschafter in Pakistan, besonderes Augenmerk auf die Beziehungen Pakistans zu den afghanischen, aber auch zu den eigenen, „bösen“ Taliban. David Ramin Jalilvand untersucht, ausgehend von der iranischen Konzeption der strategischen Tiefe, die Bemühungen Irans, seinen Einfluss in Afghanistan auszubauen, auch mit Blick auf Zentralasien und China.
Afghanistan hat im April gewählt. Der erste Gang brachte zwar keinen klaren Sieger, immerhin verliefen die Wahlen aber relativ friedlich. Allerdings führten die Stichwahlen im Juli zu keinem eindeutigen Ergebnis. Kandidat Abdullah Abdullah, ehemaliger Außenminister, warf der Wahlkommission vor, die Wahl zugunsten seines Konkurrenten Aschraf Ghani, früherer Finanzminister, gefälscht zu haben. Immerhin war Abdullah mit 45 Prozent der Stimmen des ersten Wahlgangs als Favorit in die Stichwahlen gegangen. Nach langem Tauziehen wurde Ende September eine Lösung in Form der Machtteilung erreicht: mit Aschraf Ghani als Präsident und Abdullah Abdullah als „chief executive officer“.
Die künftige Regierung wird es nicht einfach haben, vor ihr und ihren internationale Partnern stehen schwierige Entscheidungen, vor allem in zweierlei Hinsicht:
Erstens geht es innenpolitisch darum, ob eine Verhandlungslösung mit den Taliban möglich ist oder ob weiter auf den militärischen Faktor gesetzt werden soll. Damit verbunden ist die Frage, welche Rolle künftig das ausländische Militär in Form der ISAF-Folgemission spielen soll. Immerhin sollen 2015 noch mehr als 12.000 ausländische Soldaten im Lande sein. Nicht zu übersehen sind auch die wirtschaftlichen Probleme, insbesondere im Hinblick auf die Einstellung der Drogenproduktion und die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern im Interesse der Entwicklung Afghanistans.
Zweitens sollten aus dem Afghanistan-Konflikt und der damit verbundenen internationalen Aktion die nötigen Schlüsse gezogen werden. Deutlich wurde, dass ein komplexeres Herangehen nötig ist: ein breites Konzept, das weit über das Militärische hinausgeht, und eine umfassendere internationale Zusammenarbeit, die auch regionale Foren einbezieht wie die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Leider sind jedoch NATO und EU bisher nicht zu einer entsprechenden Kooperation bereit. Ein hoffnungsvoller regionaler Ansatz ist der Istanbul-Prozess.
Diese Fragen stellen sich nicht zuletzt auch für die deutsche Politik. In Deutschland sollten jetzt die richtigen Schlussfolgerungen aus den mehr als zehn Jahren Beteiligung in Afghanistan gezogen werden. Die vorrangige Orientierung auf militärische Mittel kann nur in die Sackgasse führen. Das gilt es zu bedenken, anstatt, wie Anfang des Jahres auf der Münchener Sicherheitskonferenz geschehen, von einer größeren und aktiveren Rolle Deutschlands in der Weltpolitik zu phantasieren. Vielmehr sollte der Afghanistan-Krieg Anlass für Politik und Militär sein, über Kriege im 21. Jahrhundert, Konfliktprävention und die Rolle Deutschlands nachzudenken.

Krieg in Afghanistan – Bilanz und Ausblick, WeltTrends – Potsdamer Wissenschaftsverlag, Potsdam 2014, 75 Seiten, 9,90 Euro. Mit der Broschüre eröffnet WeltTrends eine neue Publikationsreihe: EURASIEN. Dabei soll es um Aspekte des Großkontinents gehen, die für Europa und Deutschland von besonderer Bedeutung sind: ökonomische und Sicherheitsprobleme des Raums zwischen Atlantik und Wladiwostok, die sich entwickelnde Eurasische Wirtschaftsunion, die wachsende Rolle Chinas und Indiens, der politische Islam und die Veränderungen in der arabischen Welt.