17. Jahrgang | Nummer 19 | 15. September 2014

Enno Stahl zwischen Pogo und Diskurs

von Achim Katt

Literaturwissenschaftliche Aufsätze und Unterhaltung zusammen zu denken, ist nahezu unmöglich. Das weiß jeder, der dergleichen schon verfasst hat, auch wenn es die wenigsten Germanisten offen zugeben würden. Denn literarhistorische Artikel entstehen nur aus zwei Gründen: Für die Bibliografie desjenigen, der sie schreibt, und für die dunklen Tiefen der Uni-Bibliotheken, in denen Aufsatz- und Konferenzbände sogleich entsorgt werden, sobald sie eine Signatur erhalten haben.
Doch der Germanist Enno Stahl schafft mit seinen Beiträgen, die unter dem Titel „Diskurspogo“ im auf Überraschungen abonnierten Verbrecher-Verlag in Berlin erschienen sind, das Kunststück, dass sich auch und gerade Germanisten, wenn sie denn ehrlich sind, trefflich unterhalten fühlen können.
Schon bei der Lektüre des Vorworts darf man mit Goethes „Faust“ ausrufen: „Hier stock ich schon!“ Denn in diesem wird Karl Marx‘ „Kapital“ zitiert. Das gehörte in den meisten wissenschaftlichen Arbeiten, die in der DDR entstanden, zum unverzichtbaren ideologischen Ton, ist heute aber eher ungewöhnlich. Wer aber wollte widersprechen, wenn Enno Stahl uns mit Marx darauf hinweist, dass auch Dichter, Theoretiker und Medienmenschen „Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer (…) nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse“ sind?
Stahl verfolgt in seinen Beiträgen, die er für Zeitschriften, Periodika und Konferenzbände verfasste, zwei Themenschwerpunkte: Einerseits ist er auf der vergeblichen Suche nach Romanen, die unsere Lebens- und Arbeitswirklichkeit literarisch überzeugend spiegeln. Andererseits schickt Stahl der Popliteratur und ihren überkandidelten Vertretern ein analytisches und letztes „Adieu!“ hinterher. Er erklärt kurz und bündig, warum die Bücher von Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre ganz unerträglich sind: Weil es sich hier wie dort um eine „dandyhafte Selbstinszenierung“ handelt.
Enno Stahl ist zwar promovierter Germanist mit dem Lebensmittelpunkt Neuss, ist aber auch als Wissenschaftler der Punk geblieben, der er in seiner Jugend, wohl auch dem Äußeren nach, einmal war. Vielleicht auch deshalb die Lust, Fragen an die zeitgenössische Literatur zu richten, die so noch kein professioneller und professoraler Interpret gestellt hat. Stahl hält fest, dass etwa die Arbeitslosigkeit in der Gegenwartsliteratur nicht existiert. „Wenig erstaunlich“, so resümiert Stahl mit Blick auf eine Äußerung von Maxim Biller, „dass er (Biller, A.K.) zynisch bemerkte, dass Arbeitslose sowieso nicht läsen und somit auch kein Thema für die Literatur darstellen könnten.“ Mehr noch: In aktuellen Romanen werde „soziale Exklusion“ überhaupt nicht thematisiert. Aber das gibt scheinbar nur Stahl zu denken, nicht den Kohorten von Germanisten, die auf abgegraster Themenweide nach neuer Nahrung suchen.
Humorvoll ist Stahls Tirade „Bolz, Hörisch, Kittler und Winkels tanzen Pogo – erst im Ratinger Hof, dann deutschlandweit“, in der er mit den genannten Medienwissenschaftlern ins Gericht geht. Jochen Hörisch ist ja die Allzweckwaffe des Feuilletons, wenn es um Medienthemen geht. Wenn dergleichen etwa beim Kultursender MDR Figaro verhandelt wird, ist mit schöner Regelmäßigkeit Hörisch zu hören. Ganz so, als ob es in diesem großen Land keinen anderen Medienwissenschaftler gäbe. Das freilich ist nur konsequent, weil derselbe Radiosender am liebsten Tilmann Krause von der Zeitung „Die Welt“ befragt, wenn den kulturbeflissenen Hörern neue Belletristik vorgestellt werden soll.
Herzhaft lachen kann man in dem Porträt über die vier Theoretiker gar an jener Stelle, an der erklärt wird, warum gerade Norbert Bolz gern vor Kamera und Mikrofon gezerrt wird: „Wissenschaftlich wird Bolz von niemanden ernst genommen. Dafür bringt Bolz es mit seinen schlagkräftigen Thesen immer wieder ins Fernsehen. So war er etwa im ,Philosophischen Quartett‘ zu bewundern – der Sendung, in der die beiden Hardcore-Asthmatiker Safranski und Sloterdijk regelmäßig ihre Gäste an die Wand schwafelten. (…) Ganz einfach: Bolz ist der Mann fürs Grobe. Keine Halbheiten, immer klare Sätze.“
Weniger lustig, aber sehr erhellend ist auch Enno Stahls Essay über das Prekariat, also jene auch hierzulande immer stärker wachsende und auf die Mitte der Gesellschaft übergreifende Schicht, für die man den perfiden Neologismus fand, der sich aus „prekär“ und „Proletariat“ zusammensetzt.
Alles in allem ist Enno Stahls Aufsatzsammlung ein ungemein anregendes Buch, über dessen Thesen in den germanistischen Seminaren und Instituten munter drauf los diskutiert werden könnte, würden die nur, was nicht zu erwarten ist, Stahls Bedenken als relevant anerkennen. Und sei es nur dieses: „Der größte Teil der deutschen Gegenwartsliteratur nimmt keine Notiz von den gesellschaftlichen Veränderungen, die um sie herum geschehen. Ist das ihr Zimmerchen im Elfenbeinturm? Ja, vielleicht – aber ein Turmzimmer, dessen Abstand zur Erde immer geringer wird. Denn lange wird es nicht mehr dauern, bis die sozialen Verwerfungen auch die heute noch privilegierten Kulturschaffenden des bürgerlichen Mittelstands erreicht haben werden.“

Enno Stahl: Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft. Verbrecher-Verlag, Berlin 2013, 287 Seiten, 18 Euro.