17. Jahrgang | Nummer 18 | 1. September 2014

Reminiszenz an Johannes Schlaf

von Thomas Zimmermann

Wer über den Naturalismus sprechen möchte, kommt um Johannes Schlaf nicht herum. In Sachsen-Anhalt nicht, weil Schlaf so eine schöne landesinterne Biografie aufzuweisen hat: Geboren 1862 in Querfurt, Schulzeit in Magdeburg, Studium in Halle – dann ein Intermezzo in Berlin und Weimar – und ab 1937 dann den Lebensabend, der vier Jahre später ausklang, wieder in Querfurt. Und dort erinnern immerhin eine Straße, ein kleines Museum und ein Gedenkstein an den wohl größten Sohn der Stadt, während sein Nachlass im Stadtarchiv von Halle vor sich hin gammelt.
Aber auch außerhalb des Landes ist Schlaf unumgänglich. Nicht wegen seiner traulichen Biedermeier-Geschichten um seine Heimatstadt, die er verklärend „Dingsda“ nannte und ab 1890 in zahlreichen Erzählbänden ebenso kitschig wie erfolgreich in Szene setzte, dass ihm der Nachruhm zumindest in ebenjenem Dingsda sicher sein konnte: Bis 1929 brachte es allein der erste Band, schlicht „In Dingsda betitelt, auf 60.000 Exemplare. Nein, über Querfurt und Sachsen-Anhalt hinaus darf Schlaf als erster Vertreter eines konsequenten Naturalismus und überhaupt als Erfinder des naturalistischen Dramas an sich gelten. Seine bedeutendsten Leistungen auf diesem Gebiet: die drei Prosaskizzen, die unter dem Titel „Papa Hamlet“ (1889) erschienen sind, und die Dramen „Die Familie Selicke“ (1890) und „Meister Oelze“ (1892). Erst hinterher kamen Gerhart Hauptmann mit seinen „Webern“ (1892) und Max Halbe mit „Jugend“ (1893) an. Dass Hauptmann noch einige namhafte Stücke nachlegen konnte, sich spätestens mit dem Nobelpreis von 1912 endgültig unter die Klassiker der Moderne schrieb und aus beiden Gründen der heute bekannteste Naturalist ist, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass sich die neue Form der dramatischen Milieustudie, die Hauptmann so populär machte, auf Schlaf zurückgeht.
Naja, und auf Arno Holz, diesem Berliner Studienfreund, mit dem Schlaf „Papa Hamlet“ und „Die Familie Selicke“ gemeinsam verfasste. Und als der Erfolg quasi über Nacht einsetzte, als ganz Berlin und das Reich „Die Familie Selicke“ und verrückt spielten um diese neuen Stars am Theaterhimmel, da verkrachten sich Schlaf und Holz um die Frage, wer da eigentlich welchen Anteil am Ruhm (und Geld) hätte. Der Sammelband „Neue Gleise“ (1892), in dem sich so ziemlich alles, was untrennbar Schlaf und Holz war, findet, beendete die Zusammenarbeit des Duos.
Schlaf, der stille Mann aus der Provinz, hatte den plötzlichen Erfolg nicht verkraftet: Die Buchausgabe von der „Familie Selicke“ hatte innerhalb kürzester Zeit vier und „Meister Oelze etwas langsamer immerhin drei Auflagen erreicht. Er landete noch 1892 in der Nervenheilanstalt, verarmte bald. Mit den „Dingsda“-Geschichten und dem Gedichtband „Frühling“ (1896) – der es immerhin auf 60.000 Exemplare brachte – versuchte er, sich literarisches Neuland abseits der Theaterbühne zu erschreiben, doch was künstlerisch gelang, sicherte ihn finanziell nicht mehr ab. In seiner Königsdisziplin, dem Drama, konnte Schlaf keine Akzente mehr setzen und trotz umfangreicher Roman-Produktion blieb ihm diese Großgattung zeitlebens im Grunde genommen fremd.
Was also blieb? Zwei Theaterstücke und drei Erzählungen, die Deutschland auf den Kopf stellten, ein paar Gedichte und Geschichten. Und ein älter und dabei immer verbitterter werdender Schriftsteller, der seine erfolgreicheren Kollegen anfeindete, ihnen Cliquenwirtschaft im literarischen Betrieb vorwarf und den deutschen Geist endgültig im Ersten Weltkrieg untergehen sah. Ein Gelegenheitsschreiber, der sich mit Ach und Krach und einigen weniger beachteten Arbeiten über Wasser hielt. Ein Hobbyastronom, der die Sonnenflecken entdeckte und für das längst überholte geozentrische Weltbild warb. Ein Konservativer, der, religiös, philosophisch, mythisch und rassebiologisch vernagelt, für den NS-Staat eintrat, von dem er sich ein Ende der politischen Wirren, eine Revision des Versailler Vertrags, eine neue Blüte der deutschen Literatur – vor allem aber Anerkennung wünschte. Die Anerkennung, die er um 1890 für kurze Zeit genossen hatte.
Und tatsächlich rutschte Schlaf nach 1933 von der Hinterbank aus in ein paar literarische Organisationen, deren Mitglieder emigriert waren. Und auch eine Werkausgabe wurde 1934 angeleiert. Aber die kam nicht über zwei Bände hinaus und wurde wie zuletzt so manches nur in einem kleinen, provinziellen Verlag veröffentlicht. Und der zeitgenössischen Leserschaft blieb Schlaf ein Fremder. Auf dem Höhepunkt des NS-Staats, im Jahr 1941, verstarb Schlaf, 78-jährig und, wie er in seiner posthum erschienenen Autobiografie „Aus meinem Leben“ vermerkte, aufgrund der politischen Lage mit einem „Hochgefühl“. Da war er also schon selbst zur überrealistischen, konsequent naturalistischen Milieustudie des Dritten Reichs verkommen. Ein sich traurig schließender Wirkungskreis.