von Albrecht Goeschel / Klaus M. Skubich
Die Nachwuchsforscher des Institutes der Bundesagentur für Arbeit haben soeben eine unglaubliche Entdeckung verkündet: Danach gibt es einen Zusammenhang von Niedriglöhnen und Stadtteilunterschieden. In bestimmten Stadtvierteln, so die Jungwissenschaftler, wohnen gehäuft Niedriglöhner beziehungsweise Niedriglöhner landen bevorzugt in bestimmten Stadtvierteln. Gut, dass das endlich herausgefunden und ausgesprochen worden ist. Und noch eine tolle Erkenntnis haben die Arbeitsmarktforscher gewonnen: „Im Ergebnis kann innerstädtische Einkommenssegregation dazu führen, dass sozioökonomisch schwächeren Bewohnern qualitativ schlechtere lokale öffentlich Ressourcen und Netzwerke zur Verfügung stehen.“
In Wahrheit sind diese tollen Erkenntnisse so arg neu auch wieder nicht: Friedrich Engels hat da in seinen Mitte des 19. Jahrhunderts erschienenen Untersuchungen zur Lage der Arbeiterklasse in England ziemlich voluminös und konkret getextet. Mitte des 20. Jahrhunderts hat dann Lewis Mumford das Thema erneut, wenn auch reichlich großstadtfeindlich, sprich: reaktionär angepackt und derzeit heißt es im avancierten Urbanismus-Diskurs allenthalben: „Learning from Favelas“. Aber: Warum sollen die jungen Bundesagenturler das Dreirad nicht ruhig noch einmal erfinden?
Da gibt es tatsächlich ein sehr viel ekelhafteres Thema im gegenwärtigen Urbanismus-Betrieb: „Smart-City“. Propagiert wird eine „Stadt“, in der durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie „intelligente“ Lösungen für ganz unterschiedliche Bereiche der Stadtentwicklung wie Infrastruktur, Gebäude, Mobilität, Dienstleistungen oder Sicherheit erzielt werden. Jens Lübbe vom Deutschen Institut für Urbanistik: „Hier werden mehr oder weniger unverblümt Interessen global tätiger Konzerne verfolgt… Städte werden dabei als Marktplätze der Technologieanwendung begriffen.“Dieser neoliberal-technizistische Urbanismus hat es dabei nicht schwer, das bisher in Deutschland noch dominierende sozialstaatlich-biedermeierliche Urbanismus-Leitbild „Europäische Stadt“ (Rothenburg o.T. etc.) auszustechen. Dessen Innenstadt-Idylle ist ja bekanntlich längst zur Gentrifizierungs-Ideologie verkommen – siehe München, Frankfurt, Leipzig, Berlin.
Und: Die urbanistische und mobilitäre Wirklichkeit sieht sowieso ganz anders aus. Deutschland wurde schon im Jahre 2005 von der Europäischen Kommission dafür kritisiert, dass es in seiner Lebenslagen- und Armutsberichterstattung die Rolle der Versorgung mit Verkehrsdienstleistungen für die Inklusion aller Bevölkerungsgruppen restlos ignoriert hatte. In der Tat: Nicht nur überging und übergeht die regierungsamtliche Armutsberichterstattung geflissentlich die zentrale Bedeutung ausreichender Mobilität, das heißt bezahlbarer Verkehrsdienstleistungen für die Dämpfung von Armut durch Nutzung von Daseinsvorsorgeangeboten. Ganz im Gegenteil: Wenn der amtliche Regelsatz für Langzeitarbeitslose und Altersarme im Monat 19,90 Euro für Öffentlichen Personenverkehr vorsieht, dann bedeutet dies faktisch die Ghettoisierung dieser Bevölkerungsgruppe. Den für das Geschäftsmodell Deutschland angeblich Überflüssigen wird Mobilität verweigert – was eine Fixierung an ihren Wohnstandorten bedeutet. Hinzu kommt, dass Langzeitarbeitslose und Altersarme gedrängt werden, Wohnungen die teurer als 299 Euro im Monat sind zugunsten von Wohnungen aufzugeben, die auf oder unter diesem Kostenlevel liegen – solche Wohnungen gibt es aber nur in abgehängten Quartieren.
Auch ohne diese Vertreibungsmaßnahmen bewirkt in den wachstumsstarken Regionen die Verknappung von preisgünstigem Wohnraum – infolge des jahrzehntelang vernachlässigten sozialen Wohnungsbaus – über stetig steigende Mieten und Nebenkosten eine Ab- und Zusammendrängung einkommensschwacher Alleinerziehender, Teilzeitbeschäftigter, Langzeitarbeitsloser und Altersarmer. Einkommensschwache in boomenden Regionen geraten zwischen die unlösbare Alternative, entweder für innerstädtisches Wohnen mit geringeren Mobilitätskosten den größten Teil ihres Einkommens aufwenden zu müssen oder in periphere Segregationsquartiere ziehen zu müssen und dadurch mit hohen Mobilitätskosten oder faktischer Arrestierung belastet zu werden. Es kommt aber noch schlimmer: Auch in den bisher vermeintlich privilegierten Suburbia-Zonen um die Kernstädte herum werden die mehrheitlich weiblichen Hinterbliebenen der deutschen Normalfamilien in die absehbare Kostenschere zwischen den steigenden Energieaufwendungen für ihre Eigenheime und den schon lange gesenkten Hinterbliebenenrenten ihrer Männer geraten. Insgesamt bedeutet dies eine zunehmende Abhängigkeit wachsender Teile der Bevölkerung von einer leicht erreichbaren dezentralen Versorgungs- und Daseinsvorsorgeinfrastuktur oder einer bezahlbaren Verkehrsversorgung.
Wenn allerdings schon in allernächster Zeit die deutsche Schuldenbremse und der europäische Fiskalpakt ihre Wirkung entfalten, ist mit genau dem Gegenteil zu rechnen. Nach Berechnungen der Friedrich Ebert-Stiftung wären bis 2020 etwa 38,4 Milliarden Euro Investitionen für den kommunalen Personennahverkehr erforderlich. Stattdessen wird unter dem Konsolidierungsdruck die Daseinsvorsorgeinfrastruktur aus Gründen der „Wirtschaftlichkeit“ weiter zentralisiert werden und die öffentliche Verkehrsversorgung eher verteuert und/oder abgebaut als ausgebaut werden. Dabei gilt unter Fachleuten als ausgemacht, dass das geheim verhandelte neue Handelsabkommen zwischen der EU und den USA, bekannt als die sogenannten „TTIP“-Verhandlungen, vor allem auch eine weitere Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge bringen wird. Insbesondere das sogenannte „TISA“-Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen, ein Teilpaket der EU-USA-Verhandlungen, wird von Fachleuten sehr kritisch gesehen. Die Schuldenbremse und der Fiskalpakt bieten hier den idealen Vorwand, öffentliche Ausgaben einzusparen und private Gewinnmöglichkeiten zu eröffnen. Zu einer günstigeren Versorgung mit Verkehrsdienstleistungen und einer erhöhten Mobilität der Einkommensschwachen wird dies alles nicht beitragen.
Dass von dieser Koalition der Besserverdienenden und auch ihren Vorgängerregierungen keine soziale Mobilitätspolitik sondern Ghettoisierungspolitik zu erwarten war beziehungsweise zu erwarten ist, muss nicht weiter erörtert werden. Dass allerdings auch die Wohlfahrts- und Sozialverbände gegenüber dieser Ghettoisierungspolitik komplett ignorant bleiben, ist schwer zu verstehen. Die entscheidende Bedeutung des komplementären Verkehrsaufwandes einerseits und eines rentabilitätsgerechten Einzugsgebietes als Randbedingungen für die Standortwahl von Versorgungs- und Daseinsvorsorgeeinrichtungen ist allen Infrastrukturplanern seit Jahrzehnten wohlbekannt. Die GroKo hat angekündigt, dass sie möglichst viele Krankenhausstandorte eliminieren, das heißt die Krankenhausversorgung stark zentralisieren möchte. Die Öffentlichkeit muss erfahren, dass von dieser Krankenhauszentralisierung vor allem die Einkommensschwachen – und das sind die Immobilen – betroffen sein werden. Eine Gruppe von Akteuren wird dazu wieder nichts wissen und wieder nichts wissen wollen: Die Wohlfahrts- und die Sozialverbände.
Die Wohlfahrts- und Sozialverbände haben es in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht nur nicht vermocht, sondern häufig auch bewusst abgelehnt, gesamtwirtschaftliche, infrastrukturpolitische und regionalökonomische Kompetenz aufzubauen, die uns in die Lage versetzt hätte, die Rahmenbedingungen des „Sozialen“ angemessen zu identifizieren und zu analysieren und daraus Interessenpolitik zu generieren.
Prof. Albrecht Goeschel, Staatliche Universität Rostov, Mitglied des Präsidiums der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona.
Klaus D. Skubich, Vorsitzender des SoVD-Kreisverbandes Dortmund und des SoVD Landesverbandes Nordrhein-Westfalen.
Schlagwörter: Albrecht Goeschel, Daseinsvorsorge, Infrastruktur, Klaus D. Skubich, Mobilitätsarmut, Öffentlicher Nahverkehr