16. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2013

Meißner-Lager 2013 – Kohten und Jurten bei Frankershausen

von Eckard Holler

Zur Durchführung des Jurtenlagers der Bündischen Jugend bei Frankershausen 1. bis 6. Oktober 2013 – aus Anlass „100 Jahre Hoher Meißner 1913 – 2013“ – hatten sich rund 60 Jugendbünde zu einem Zeltlagerverein zusammengeschlossen. Maßgebend beteiligt waren Zugvogel, Deutsche Freischar, Deutsche Waldjugend und die zum Teil von Frauen neu gegründeten Wandervogelbünde, vor allem aber die mitgliederstarken Pfadfinderbünde BdP, DPB, VCP und CPD, die das Bild des Lagers wesentlich prägten. Hinzu kam eine Fülle von Klein- und Kleinstbünden, die sich in der Tradition des Wandervogels, der Jungenschaft oder der (bündischen) Pfadfinder verstehen. Auffällig war die starke Präsenz von christlichen Jugendbünden, die teilweise eigene Zeltkirchen aufgebaut hatten, und am auffälligsten die starke, fast dominante Präsenz selbstbewusster Mädchen und junger Frauen, die die Zusammensetzung der Bündischen Jugend in den letzten Jahrzehnten gründlich verändert hat.
An einem Wiesenhang des Hohen Meißner war eine imposante und malerische Zeltstadt nach genau durchdachten planerischen und stilistischen Vorgaben aufgebaut worden, die unter Befolgung einer strikten Lagerordnung – mp3-Player, Handies, iPods und ähnliche Geräte waren verpönt, elektrischen Strom gab es nicht, Generatoren waren nicht erlaubt – eine Woche lang ein abwechslungsreiches Lagerleben mit Cafés und Bistros, Lesehallen und Fotoausstellungen und einem reichhaltigen Workshop- und Veranstaltungsprogramm entwickelte.
Das einheitliche Design des Zeltlagers ergab sich durch die Vorgabe, dass ausschließlich „Kohten“ und „Jurten“ sowie die aus den schwarzen Kohten- und Jurtenplanen phantasievoll konstruierten, mehrstöckigen Jurtenburgen zugelassen waren. Bei „Kohte“ und „Jurte“ handelt es sich um Feuerzelte, die der junge Designer und Jugendführer Eberhard Koebel (tusk) anfangs der 30er Jahre speziell für den Fahrtengebrauch der Bündischen Jugend nach dem Vorbild der Nomadenzelte der Samen und der Mongolen entworfen hatte.
Zu den auffälligsten Merkmalen dieses Lagers gehörte das gemeinsame Singen. Gesungen wurde zur Gitarrenbegleitung bei allen Anlässen – den Morgenrunden und vor dem Essen, zur Einstimmung der Anwesenden auf einen Vortrag oder zum Abschluss einer Beratung oder Diskussion, beim geselligen Zusammensitzen tagsüber und natürlich am nächtlichen Lagerfeuer. Richtige Singeorgien gab es nachts in den zentralen Jurtenburgen, wo sich die Jungen und Mädchen dicht an dicht um die Lagerfeuer drängten und, angeleitet von den Klampfenspielern, bis in die frühen Morgenstunden Lieder von Fernweh und Abenteuer anstimmten. In den begeisterten Gesichtern der Singenden spiegelte sich das Glück dazuzugehören, aber auch der Trotz, einer etwas anderen Freizeitaktivität als der Mainstream der heutigen Jugend nachzugehen. „Feiert das Fest, Kameraden, kurz ist das Leben auf dieser Erde, feiert das Fest, Kameraden“, war eine häufig zu hörende Refrainzeile. Beliebt waren auch drastische Liedtexte wie dieser: „Sonnenschein und wilde Feste sind im Leben noch das Beste und der Henker kriegt die Reste, was vom Lumpen übrig blieb“. Neben Liedern, die ein hedonistisches Lebensgefühl ausdrückten, standen andere, die dem Spießer die Zunge zeigten und Solidarität mit den von der Gesellschaft Geächteten bekunden. Sympathien dieser Art, die dem bündischen Lebensgefühl entsprechen, machen die Beliebtheit des „Tanzlieds des Totenschiffs“ von B. Traven aus, in dem es heißt: „Was gehen euch meine Lumpen an? Da hängen Freud‘ und Tränen dran. Was kümmert euch denn mein Gesicht, ich brauche euer Mitleid nicht“, und wo es in der letzten Strophe zu einer grob-ketzerischen Absage an die christliche Jenseitsverheißung kommt: „Ich pfeife auf das Weltgericht, an Auferstehung glaub ich nicht, ob‘s Götter gibt, das weiß ich nicht und Höllenstrafen fürcht‘ ich nicht.“ Im Ohr blieb auch das „Lied von der Sandbank“, das von Liebe, aber mit Vorbehalt, handelt und mit dem Refrain endet: „Ich liebe dich, doch nur bis zur Sandbank, was dann kommt, bringt uns schon die Zeit“ . Es wurde zum eigentlichen Hit des Lagers.
Wissenswert ist, dass das Liedrepertoire einer Bündischen Gruppe mehrere hundert Lieder umfassen kann, dass fast jeder zumindest so gut Gitarre spielen lernt, dass er einfache Melodien begleiten kann und dass es üblich ist, ein selbstgeschriebenes Liederbuch zu führen, auf den Fahrten Volkslieder der bereisten Länder zu sammeln und selbst Lieder zu komponieren. Daneben gibt es einen umfangreichen traditionellen Liedschatz, der den verschiedenen Generationen der Jugendbewegung gemeinsam ist, also Lieder, die schon vor 1933 im Nerother Wandervogel oder in der dj.1.11 gesungen wurden wie „Trampen wir durchs Land“ oder „Über meiner Heimat Frühling“ und sogar Lieder, die schon vor dem 1. Weltkrieg im Wandervogel entstanden sind. Nicht zufällig gehörte das traditionelle Wandervogellied „Wir wollen zu Land ausfahren“, das aus dem Jahr 1912 stammt und die Suche nach der „blauen Blume“ zum Thema hat, beim Festakt des Meißner-Lagers zu den sechs Liedern, die von den dreieinhalbtausend Teilnehmern gemeinsam gesungen wurden. Die Feststellung eines Beobachters, die Lieder seien „die eigentlichen Programme der Bündischen Jugend“, kommt der Wahrheit vermutlich recht nahe.
Zum Festakt am späten Freitagnachmittag versammelten sich alle Lagerteilnehmer auf der Festwiese, hörten sich die Reden von Thomas Grothkopp, Hans-Peter von Kirchbach, Franca Federer und Sebastian Arp an und verfolgten die Lichtinszenierung, bei der nacheinander genau hundert auf Stelen gestellte Fackeln angezündet wurden, nachdem sie mit einer Jahreszahl und einem Namen aus der Jugendbewegung versehen waren. Die Lichterkette der hundert Fackeln erreichte schließlich den 250 Meter von der Bühne entfernt aufgebauten Holzstoß, dessen Entzündung den Höhepunkt und Abschluss des Festaktes bildete.
Gemessen an den Erklärungen vergangener Meißner-Tage, die sich 1963 mit dem Verhältnis der Bündischen Jugend zur Demokratie und 1988 mit der ökologischen Verantwortung beschäftigt hatten, blieben die Reden hinter den Erwartungen zurück und bezogen sich nur auf das gelungene gemeinsame Zeltlager-Projekt. Am weitesten auf gesellschaftspolitisches Gebiet vor wagte sich Hans-Peter von Kirchbach, ein ehemaliger christlicher Pfadfinder, der General der Bundeswehr war (und als „Held von der Oder“ beim Hochwasser 1997 öffentliche Bekanntheit erreicht hatte). Er sprach von dem Recht der Bündischen Jugend auf ihre eigene Welt, ermahnte sie aber, diese nicht als Selbstzweck zu missbrauchen, sondern „aus der eigenen Gemeinschaft in die Gesellschaft zu wirken“ und zu versuchen, „unsere eigene Umgebung, unser Land und die Welt zu einem besseren Platz zu machen.“
Die „Meißnererklärung 2013“ der veranstaltenden Bünde wendet sich gegen die Verlagerung wichtiger Erfahrungen in den virtuellen Raum, fordert die Erhaltung eines Freiraums der Erziehungsarbeit für das „tatsächliche Erleben“ und den „unmittelbaren Umgang mit der Natur“. Kritisiert wird die Tendenz in der Politik, die Bildung auf ein „bloßes Mittel zum Zweck“ zu reduzieren. Ihr wird „die Einzigartigkeit des selbstbestimmten Bildungsansatzes“ der Bündischen Jugend entgegengestellt und die Überzeugung geäußert, dass „die bündische Lebensweise im Sinne der Meißnerformel“ auch zukünftigen Herausforderungen gewachsen sein wird.
Das Lagerprogramm umfasste rund 200 Angebote unterschiedlichster Art. Es gab eine Fülle von praktischen Workshops wie Folktanzen, Filzen, Schmuck herstellen und Übungen in zirzensischen Künsten. Es gab Theateraufführungen und konzertante Darbietungen, Selbstverständnisdiskussionen und Erfahrungsaustausch über Trampen, Bootstouren, Segeln und unterschiedliche Fahrtenstile. Gesellschaftspolitische und brisante historische Themen wurden in der „Heckenuni“ der Deutschen Freischar und in den „Jurtengesprächen“ des Mindener Kreises diskutiert, unter anderem auch die Problematik der Pädophilie in der Jugendbewegung. Großes Interesse bei den Jugendlichen fand der Auftritt des 94-jährigen Herbert Westenburger, der vom illegalen Zusammenhalt seiner bündischen Freundesgruppe in der NS-Zeit erzählte, dazu aus seinem autobiografischen Buch „Wir pfeifen auf den ganzen Schwindel“ las und an seinem Beispiel zeigte, dass die Behauptung nicht stimmt, die Bündische Jugend sei 1933 geschlossen zur HJ übergelaufen.