16. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2013

Mitten aus dem Leben

von Albert Camus

Gewiß erscheint es einem heute nur natürlich, wenn die Leute von morgens bis abends arbeiten und dann die Zeit, die ihnen zum Leben bleibt, beim Kartenspiel, im Kaffeehaus und mit Geschwätz vertun. […] Daher ist es nicht nötig, die Art, wie man sich bei uns liebt, näher zu beschreiben. Entweder verzehren sich Männer und Frauen hastig im sogenannten Liebesakt, oder sie geraten in die Gleichförmigkeit eines langen Lebens zu zweit.
Zwischen diesen Extremen gibt es nur selten einen Mittelweg. Das ist ebenfalls nichts Besonderes. Wie anderswo ist man auch in Oran aus Zeitmangel und Gedankenlosigkeit gezwun­gen, sich zu lieben, ohne es zu wissen.

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Heimsuchungen gehen tat­sächlich alle Menschen gleich an, aber es ist schwer, an sie zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen. Es hat auf der Erde ebenso viele Pestseuchen gegeben wie Kriege. Und doch finden Pest und Krieg die Menschen immer gleich wehrlos. […] Weil die Plage das Maß des Menschlichen übersteigt, sagt man sich, sie sei unwirklich, ein böser Traum, der vergehen werde. Aber er vergeht nicht immer, und von bösem Traum zu bösem Traum vergehen die Menschen, und die Menschenfreunde zuerst, weil sie sich nicht vorgesehen haben.

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Als die Krankheit am schlimmsten wütete, gab es nur einen einzigen Fall, wo die menschlichen Gefühle stärker waren als die Angst vor einem qualvollen Tod. Und es handelte sich nicht, wie man eigentlich erwartet hätte, um ein Liebespaar, das die Leiden­schaft über alles Elend hinweg zueinandertrieb. Es betraf den alten Dr. Castel und seine Frau, die seit vielen Jahren ver­heiratet waren. Einige Tage vor der Epidemie hatte sich Frau Castel in eine benachbarte Stadt begeben. Die beiden führten nicht einmal eine jener Ehen, die der Welt das Muster eines vorbildlichen Glücks vor Augen führen, und der Erzähler darf sogar sagen, daß diese Eheleute sehr wahrscheinlich früher gar nicht sicher waren, ob ihre Ehe sie befriedigte. Aber diese plötzliche und lange Trennung hatte ihnen klargemacht, daß sie nicht ohne einander leben konnten und daß neben dieser unvermutet entdeckten Wahrheit die Pest wenig Bedeutung hatte.

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In gewöhnlichen Zeiten empfanden wir alle, bewußt oder unbewußt, daß es keine Liebe gibt, die sich nicht noch steigern kann, und doch ließen wir es mehr oder weniger gleichmütig zu, daß die unsere mittelmäßig blieb.

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Ihre Hoffnungslosigkeit rettete sie vor der Panik, ihr Unglück hatte auch sein Gutes.

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[…] es gab in dem Elend einen Teil Abstraktion und Unwirklichkeit. Aber wenn die Abstraktion anfängt, einen zu töten, dann muß man sich wohl oder übel mit ihr beschäftigen.

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„Ja“, stimmte Tarrou zu, „ich verstehe. Nur werden Ihre Siege immer vorläufig bleiben, das ist alles.”
Rieux’ Gesicht schien sich zu verdüstern.
„Immer, ich weiß. Das ist kein  Grund, den Kampf auf­zugeben.”

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[…] es kommt immer ein Augenblick in der Geschichte, wo derjenige, der zu behaupten wagt, daß zwei und zwei vier ergibt, mit dem Tode bestraft wird.

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„[…] ich habe genug von den Leuten, die für eine Idee sterben. Ich glaube nicht an das Heldentum. Ich weiß, daß es leicht ist, und ich habe erfahren, daß es mörderisch ist. Mich interessiert nur noch, von dem zu leben und an dem zu sterben, was ich liebe.“

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„Es gibt immer einen, der noch mehr gefangen ist als ich”, war der Satz, der […] ihre einzig mögliche Hoffnung zusammenfaßte.

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[…] die Wirklichkeit. Wohlverstanden konnte man sich immer bemühen, sie nicht zu sehen, die Augen zu schließen und sie abzulehnen. Aber die Wirklichkeit besitzt eine schreckliche Kraft, die zum Schluß alles überwindet.

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„Sie können sagen, was Sie wollen, eines dürfen Sie mir glauben: die einzige Art, die Leute zusammenzubringen, besteht immer noch darin, daß man ihnen die Pest schickt. Schauen Sie doch um sich.“

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[…] was man in den Heimsuchungen lernen kann, näm­lich, daß es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.

Aus: Albert Camus, Die Pest. Roman, Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH Reinbek bei Hamburg, 1974. Die Rechtschreibung des Originals wurde beibehalten. Überschrift – die Redaktion.
© 1997 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Albert Camus, der am 4. Januar 1960 bei einem Autounfall, als Beifahrer, den Tod fand, hätte am 7. November seinen 100. Geburtstag.