16. Jahrgang | Nummer 10 | 13. Mai 2013

Die Endlagerlüge

von Wolfgang Schwarz

Es gibt Lügen, die sind über Generationen so tief und flächendeckend ins Bewusstsein der großen Mehrheit einer Gesellschaft eingestanzt worden – zum Beispiel durch Politiker, Medien, wissenschaftliche und andere Hiwis –, dass sie im öffentlichen Bewusstsein irgendwann als gesicherte Wahrheiten, als reale Bestandteile der uns umgebenden Wirklichkeit gelten. Eine solche Lüge ist hierzulande seit Jahrzehnten konstituierender Bestandteil der politischen Auseinandersetzungen um die Langfristlagerung von Atommüll, und sie besteht in der stereotypen Verwendung des Terminus‘ Endlager durch die politischen Entscheidungsträger und ihre wissenschaftliche, mediale und atomindustrielle Entourage. Der Kern der Lüge ist dabei bereits im Begriff manifest – denn, in Abwandlung eines berüchtigten Statements von Margaret Thatcher: There is no such thing as final disposal of nuclear waste – so etwas wie Endlagerung von Atommüll gibt es nicht. Der Grund dafür ist ebenso simpel wie unumstößlich: Radioaktivität, radioaktive Stoffe können nicht „entsorgt“ werden. (Die frühere Idee, Atommüll ins Weltall zu verklappen, wurde aus naheliegenden Gründen gar nicht erst erprobt.) Radioaktivität kann sich nur selbst beseitigen – auf dem Wege des natürlichen Zerfalls ihrer Trägerelemente (Uran, Plutonium, Cäsium, Jod und andere). Das Maß der Dinge ist dabei die sogenannte Halbwertzeit. Das ist jene Spanne, die vergeht, bis die gegebene Masse einer radioaktiven Substanz sich durch Zerfalls- beziehungsweise Umwandlungsprozesse unter Freisetzung von Strahlung halbiert hat.
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Plutonium – Exkurs I: Beim Plutoniumisotop 239 beträgt die Halbwertzeit 24.000 Jahre – von einer Menge X wären demzufolge nach 120.000 Jahren immer noch 3,12 Prozent vorhanden. Vor Beginn des anthropogenen Atomzeitalters existierte dieser Stoff nicht wirklich – aus der Natur war er wegen seiner Halbwertzeit praktisch vollständig verschwunden. Die heutigen globalen Bestände von vielen Hundert Tonnen in den USA, in Russland, Frankreich, Großbritannien und China, aber auch in Japan, Israel, Indien, Pakistan, Deutschland und anderen Ländern sind ausschließlich Ergebnis menschlichen Tuns. Erst 1940 entdeckt, wurde Plutonium schon kurze Zeit später durch Beschuss von Uran mit Neutronen künstlich erzeugt: Wissenschaftler hatten es frühzeitig als besonders geeignet zum Bau eines atomaren Sprengsatzes identifiziert. Die auf Nagasaki am 9. August 1945 abgeworfene Bombe war eine Plutonium-Bombe. Daneben fällt Plutonium seit Jahrzehnten bei der friedlichen Kernspaltung zur Energiegewinnung in Atomkraftwerken auf der ganzen Welt an – als zwangsläufiges Beiprodukt.
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Menschliche Hochkulturen existieren – großzügig gerechnet – seit 10.000 Jahren, wenn man die erste archäologisch nachgewiesene Stadtmauer um Jericho um 8.000 vor Christus zum rechnerischen Ausgangspunkt nimmt. Bei atomarer Abfallwirtschaft geht es schon rein zeitlich um ein Vielfaches der bisherigen Zivilisationsgeschichte – siehe unter anderem Plutonium. „Als Richtwert für die Dauer der Lagerung von hochradioaktivem Schutt veranschlagen Fachleute eine Million Jahre“, wurde kürzlich im Freitag mitgeteilt. Bisher sind jedoch keine belastbaren Konzepte oder gar Technologien bekannt, mit denen radioaktive Stoffe so eingelagert werden können, dass Strahlen- und Umweltschutz über zig-Tausende von Jahren gewährleistet wären und zugleich die Lagerbestände jederzeit mit vertretbarem Risiko auch wieder beräumt beziehungsweise umgelagert werden könnten. Wie sträflich die langfristigen Anforderungen an die Lagerung von Atommüll lange Zeit unterschätzt oder von Beteiligten auch wider besseres Wissen ignoriert worden sind, hat die Skandaldeponie Asse zur Genüge deutlich gemacht. Dort waren zwischen 1967 und 1978 über 125.000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen deponiert worden. Heute – nur 46 Jahre nach Einrichtung des Lagers – dringt Wasser in die Grube ein, Fässer rosten, radioaktive Substanzen treten aus. Wo Experten mit den ganz praktischen Fragen der Langfristlagerung von Atommüll heute – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – überhaupt befasst sind, besteht bisher im Übrigen nicht einmal Konsens darüber, wie allein die Informationen über atomare Lagerstätten und deren Inhalte dargestellt und gesichert werden müssten, damit sie auch in – um eine willkürliche Spanne zu nennen – 30.000 Jahren noch zugriffsfähig und verständlich wären. Nichts ist geklärt – nur eines ist sicher: Wer in diesem Kontext mit dem Begriff Endlager operiert und damit Machbarkeit oder gar gesicherte Beherrschbarkeit suggerieren will, der offenbart damit entweder ein unglaubliches Maß an Dummheit oder, was wahrscheinlicher sein dürfte, eine geradezu kriminelle Chuzpe im Umgang mit den Problemen und mit der Öffentlichkeit.
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Plutonium – Exkurs II: Plutonium ist ein Schwermetall. Es liegt überwiegend in folgenden Formen vor – a) als separiertes, kompaktes Metall nach der Wiederaufarbeitung ausgedienter Brennstäbe; b) als Bestandteil eben solcher Brennstäbe sowie c) in Gestalt von unter Plutonium-Beimischung hergestellten sogenannten MOX-(Mischoxid)Brennstäben. Die von Plutonium ausgehende kurzwellige Alpha-Strahlung kann mit minimalem physischen Aufwand abgeschirmt werden. Allerdings ist Plutonium biologisch hochtoxisch und hat, als Partikel eingeatmet, ein sehr hohes Potenzial, Lungenkrebs auszulösen. Dazu genügt ein millionstel Gramm. Von der australischen Ärztin und Anti-Atom-Aktivistin Helen Caldicott stammt das Rechenexempel, dass bereits 500 Gramm Plutonium – fein verteilt über den gesamten Erdball – ausreichen würden, um bei der gesamten Erdbevölkerung Lungenkrebs hervorzurufen. Das verdeutlicht die Dimension der Gefahr. Der Fall selbst ist gottseidank nicht eingetreten, obwohl von 1945 bis 1980 durch oberirdische Kernwaffentests zwischen drei und fünf Tonnen Plutonium in der Atmosphäre freigesetzt wurden. Die Spuren sind jedoch weltweit bis heute nachweisbar. Damit nicht genug ist Plutonium in metallischer Form einer der Stoffe, aus denen man die Bombe macht – und zwar vergleichsweise unaufwendig. Eine komplexe Anreicherung über diverse Verfahrensschritte wie bei Uran ist nicht erforderlich. Und vom Plutoniumisotop 239 zum Beispiel genügt die vergleichsweise geringe kritische Masse von knapp 4,5 Kilogramm, abgeschirmt durch 30 Zentimeter Stahl zur Reflexion der dem Metall entweichenden Neutronenstrahlung, um eine Kettenreaktion, also die Nuklearexplosion, auszulösen. Eine Tonne Plutonium 239 geben Experten demzufolge als Äquivalent für bis zu 2.000 Sprengköpfe des Nagasaki-Formats an.So eine Bombe kann zwar kein Amateur in seinem Bastelkeller zusammenbauen, aber es wäre für staatliche und andere entsprechend organisierte Akteure immerhin einfach genug, um alles daranzusetzen, dass dieser Stoff nicht in falsche Hände gerät!
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Durch den jahrzehntelangen Betrieb von Kernkraftwerken und zahlreichen weiteren Anlagen und Einrichtungen, die mit radioaktiven Materialien arbeiten – etwa in der Forschung und im Gesundheitswesen –, hatten sich bereits bis zum Jahre 2010 in der Bundesrepublik 204.000 Kubikmeter niedrig- und mittelradiokativer sowie 24.300 Kubikmeter hochradioaktiver Müll angesammelt. Für hochradioaktive Abfälle bestehen drei zentrale Zwischenlager – Gorleben (Niedersachsen), Ahaus (Nordrhein-Westfalen) und das Zwischenlager Nord in Rubenow (Mecklenburg-Vorpommern) – sowie zwölf dezentrale Lager auf dem Gelände von Kernkraftwerken. Niedrig- und mittelradioaktiver Müll lagert, zumindest zeitweise, an zahlreichen weiteren Orten, wo mit entsprechenden Substanzen gearbeitet wird. Das kann ganz in der Nachbarschaft sein – wie im Falle des nuklearen Forschungsreaktors am Hahn-Meitner-Institut, dessen Lagerkapazitäten dem Vernehmen nach gut bestückt sein sollen. Der Reaktor ohne Containment steht im noblen Berliner Villenvorort Wannsee. (Die Versenkung von Atommüll im Meer – eine auch von der Bundesrepublik jahrelang geübte Praxis – ist seit 1993 international verboten.)Bis zum Abschalten des letzten deutschen Atommeilers werden die strahlenden Müllberge weiter anwachsen. In den Medien ist von bis zu 450 Tonnen Atomabfall pro Jahr die Rede, inklusive Plutonium.
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Plutonium – Exkurs III: Wenn man der Frage nachgeht, welche Menge Plutonium die Bundesrepublik heute ihr (und damit quasi unser aller) eigen nennt – Kernkraftwerke werden hier ja immerhin seit Mitte der 60er Jahre betrieben –, dann ist ein klarer Überblick nicht zu gewinnen. Eindeutige und vollständige offizielle Angaben staatlicher Behörden für den gesamten bisherigen Zeitraum deutscher Atomwirtschaft – Fehlanzeige. Der mit sehr detaillierten Angaben über alle relevanten Länder gespickte Global Fissile Material Report 2011. Nuclear Weapon and Fissile Material. Stockpiles and Production weist für Deutschland seltsamerweise lediglich zwei Tonnen Plutonium in MOX-Elementen aus. Das ist aber nicht einmal die halbe Wahrheit. In einem auf 2011 datierten Material von Martin B. Kalinowski, einem Experten des Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrums für Naturwissenschaft und Friedensforschung, der sich seit Jahren mit der deutschen Plutonium-Bilanz befasst, sind zwölf Tonnen separiertes, also mehr oder weniger reines und damit bombenfähiges deutsches Plutonium aufgelistet, die im Ausland lagern. „Ausland“ meint in diesem Fall die Wiederaufbereitungsanlagen von La Hague (Frankreich) und Sellafield (Großbritannien), in denen die Bundesrepublik über viele Jahre verbrauchte Brennstäbe wiederaufarbeiten ließ. In seiner früheren Arbeit The German Plutonium Balance, 1968 – 1999 hatte Malinowski (zusammen mit Ko-Autoren) allerdings allein für die Zeit von 1968 bis 1999 bereits eine Menge von 32 bis 38 Tonnen ermittelt, die sich daraus ergab, dass schon bis dahin weit über 7.000 Tonnen verbrauchter deutscher Brennstäbe nach Frankreich und Großbritannien verbracht worden waren. Da die Wiederaufarbeitung deutscher Brennstäbe an beiden Standorten erst 2005 endete, könnten nach Expertenschätzungen dabei insgesamt 60 bis 80 Tonnen separiertes Plutonium angefallen sein. Das Eigentumsrecht eines geringen Teils davon ging nachweislich auf Großbritannien über. Welche Mengen des restlichen Plutoniums in die Bundesrepublik zurückgeführt wurden oder in den kommenden Jahren noch werden, ist nicht exakt zu beziffern. Nur die Anzahl der Castor-Container, die noch bis 2016 aus La Hague und Sellafield angeliefert werden, ist bekannt: 26.Im Januar 2012 richteten Bundestagsabgeordnete der Grünen eine Kleine Anfrage in Sachen Wiederaufarbeitung deutscher Brennstäbe und MOX-Fertigung in Großbritannien und Frankreich an die Bundesregierung. Daraufhin machte die Bundesregierung die folgenden Angaben: Mit Stand vom 31.12.2010 seien nach Großbritannien 851 Tonnen verbrauchter Brennstäbe aus Leistungsreaktoren zur Wiederaufarbeitung geliefert worden – mit einem geschätzten Plutoniumanteil von 8,5 Tonnen. In Sellafield seien 6,8 Tonnen separiertes Plutonium angefallen. Weitere 0,4 Tonnen in MOX-Form und 1,7 Tonnen als Bestandteil nicht aufgearbeiteter Brennstäbe hätten zum Zeitpunkt der Antwort noch in Sellafield gelagert. Nach Frankreich seien 5.393 Tonnen verbrauchter Brennstäbe aus Leistungsreaktoren mit einem geschätzten Plutonium-Gehalt von 53,9 Tonnen verbracht worden. Eine weitere Aufschlüsselung erfolgte nicht.Wiederaufarbeitung deutscher Brennstäbe hat in der Vergangenheit im Übrigen auch in Belgien stattgefunden. Und in der Wiederaufbereitungs-Pilotanlage in Karlsruhe sind im Laufe der Jahre ebenfalls über 1.000 Kilogramm Plutonium angefallen. Schließlich werden verbrauchte Brennstäbe aus AKWs zwar heute nicht mehr ins Ausland verbracht, aber sie fallen natürlich kontinuierlich an und stapeln sich nun – inklusive Plutonium – in den genannten Zwischenlagern.Fazit: Welchen Umfang die Plutonium-Last der Bundesrepublik tatsächlich hat und wie sie sich regional verteilt, ist eine Frage, die derzeit nicht exakt beantwortet werden kann.
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Anfang April ist nun mit einem entsprechenden Bund-Länder-Konsens ein Neustart bei der bereits seit Jahrzehnten laufenden Auseinandersetzung um ein unterirdisches Zentrallager für Atomabfall in der Bundesrepublik eingeläutet worden. Der Standort soll bis 2031 gefunden und voraussichtlich 2040 in Betrieb genommen werden. „Dieses Mal ohne Tricks“ – titelte ein hauptstädtisches Blatt.Diese Ankündigung ist allerdings insofern eine Luftnummer, als unverändert von Endlager gesprochen, also an der Irreführung der Öffentlichkeit festgehalten wird. Die Kollegen von der Zeitung haben damit offenbar kein Problem, denn sie titelten an anderer Stelle: „Altmeiers Endlager-Coup“ (Hervorhebung – W.S.) Inzwischen hat das Bundeskabinett ein Endlagersuchgesetz verabschiedet.Um nicht missverstanden zu werden: Die Bundesrepublik braucht dringend mindestens eine zentrale Deponie, in der Atommüll langfristig unterirdisch gelagert werden kann, ohne dass bei jeder Anlieferung etwa von Castor-Behältern ganze Landstriche in Aufruhr geraten beziehungsweise Transporte von Fall zu Fall gänzlich unmöglich werden. Ein solches Zentrallager wäre allemal besser im Sinne von sicherer, als die Nuklearabfälle an den gegenwärtigen dezentralen oberirdischen, gegen terroristische Attacken, Flugzeugabstürze, Naturkatastrophen und ähnliche Malaisen vergleichsweise nur schwach geschützten Orten zu belassen.Über die damit verbundene Multiplikation des Risikos schwerwiegender bis katastrophaler Zwischenfälle – immerhin lagern heute an bis zu 15 Standorten Behälter, die jeder für sich mehr hochradioaktive Stoffe enthalten, als beim Gau in Tschernobyl freigesetzt wurden, – der Öffentlichkeit endlich reinen Wein einzuschenken, könnte die Suche nach einem gesellschaftlichen Konsens über ein Zentrallager und damit letztlich auch eine Standortfindung erheblich befördern. Dazu gehörte dann allerdings noch eine weitere Wahrheit, um die die Atomwirtschaft und die politisch Verantwortlichen in wechselnden Bundes- und Landesregierungen sich seit Jahrzehnten herumdrücken: Zu beseitigen sind die mit radioaktivem Müll verbundenen Risiken für Leben, Gesundheit, Umwelt und Sicherheit auf Hunderttausende von Jahren nicht – sie können nur minimiert und nachfolgenden Generationen als Erblast hinterlassen werden.Stattdessen halten die Protagonisten des jetzigen Bund-Länder-Kompromisses bis in die Reihen der Grünen weiter an der Lüge vom Endlager fest. Und das will niemand in seiner Nachbarschaft haben. Daran wird auch ein Endlagersuchgesetz nichts ändern. So bleiben die Schlachten von Wackersdorf und Gorleben ein Blick in die Zukunft.

P.S.: Warum wurde diese Lüge überhaupt in die Welt gesetzt? Die Frage könnte Stoff für eine kapriziöse Verschwörungstheorie liefern, aber wahrscheinlich war alles ganz banal. Am Beginn der atomaren Ära, dachte zunächst – verheißungsbesoffen, wie jene Zeit war („Das Energieproblem der Menschheit lösen!“) – niemand die Sache „zu Ende“. Irgendwann ahnten einzelne Wissenschaftler, dass das Atomproblem doch etwas vielschichtiger werden könnte, hingen ihre Erkenntnisse aber nicht an die große Glocke. Als schließlich den ersten politischen Verantwortungsträgern schwante: Ups, mit der Atomenergie wird es uns in absehbarer Zeit wohl so gehen wie dem Zauberlehrling … nur dass in diesem Fall der Ruf nach dem „alten Meister“ ein vergeblicher wäre, da war der Geist längst aus der Flasche. Verantwortlich sein vor der Öffentlichkeit, also dem Wähler, wollte natürlich niemand. Das führte unter den Eingeweihten zu dem allgemeinen Komment: Verschweigen, vernebeln, Probleme klein reden und – Endlager suchen. Der Begriff hat doch zumindest noch irgendwie etwas Beruhigendes …