16. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2013

Zu Fuß nach Syrakus

von Manfred Orlick

Am 9. Dezember 1801 schnallte Johann Gottfried Seume in Grimma seinen Tornister und machte sich zu Fuß auf nach Sizilien. Bis dahin war er ein nahezu unbekannter Mann gewesen. Mit seinem „Spaziergang nach Syrakus“ ins Idealland der Deutschen wurde Seume jedoch über Nacht berühmt.
In 250 Tagen legte er 800 Meilen zurück. (Eine Meile entsprach etwa 7,5 Kilometer.) An manchen Tagen bewältigte Seume sechs, sieben Meilen. Die beschwerliche und mitunter gefährliche Hinreise führte ihn über Wien, Venedig Rom und Neapel. Der Rückweg über Mailand, Zürich, Paris und Frankfurt am Main war jedoch nicht weniger abenteuerlich.
Nach seiner Rückkehr hatte Seume den Reisebericht „Spaziergang nach Syrakus“ auf Drängen von Freunden aus Briefen und Tagebuchnotizen zusammengestellt. Der beschauliche Titel kontrastierte dabei mit den Strapazen der Reise und dem Inhalt der Beschreibung. Seumes Spaziergang war eine Reise ins von den Napoleonischen Kriegen zerrüttete Italien. Vor allem interessierten ihn die Bewohner des Landes, ihr Alltag, ihre Sitten und Bräuche. Überschwängliche Schilderungen der antiken Kunstschätze und der italienischen Landschaft findet man daher kaum in seinem Bericht. Vielmehr registrierte er aufmerksam die Auswirkungen der napoleonischen Feldzüge und der Misswirtschaft kirchlicher und weltlicher Fürsten. Im Glanz der längst vergangenen klassischen Zeit entdeckte er das soziale Elend.
Leider wird Johann Gottfried Seume auch heute noch weitgehend auf seinen berühmten „Spaziergang“ reduziert – dieser ist wie ein Stichwort, wenn sein Name fällt. Dabei liest sich schon seine Biografie wie ein Wechselspiel von Aufenthalten und Ausbrüchen aus seiner sächsischen Heimat, speziell Leipzig. Er wurde am 29. Januar 1763 (Blättchen gratuliert nachträglich zum 250. Geburtstag.) in Poserna bei Weißenfels als Sohn eines Bauern geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Infolge einer Missernte verlor die Familie fast ihre gesamte Habe, und der Vater war fortan zur Fronarbeit gezwungen. Nach dem Tod des Vaters (1776) verarmte die Familie noch mehr. Der begabte Junge fand jedoch adlige Förderer, die ihm den Besuch der Lateinschule in Borna und des Gymnasiums ermöglichten.
Mit dieser Unterstützung, die allerdings gering bemessen war, konnte Seume schließlich auch an der Leipziger Universität ein Theologiestudium aufnehmen, jedoch mit der Verpflichtung, Pfarrer zu werden. Das Studium brach er 1781 nach zwei Semestern ab und floh aus der Messestadt in Richtung Frankreich. Unterwegs wurde er von hessischen Werbern aufgegriffen und als Soldat nach Amerika verschifft. Als das Schiff dort eintraf, war der Unabhängigkeitskrieg bereits beendet. Nach einem einjährigen Dienst wurde seine Truppe wieder in die Heimat nach Bremen transportiert. Bei einem erneuten Fluchtversuch wurde Seume von preußischen Werbern aufgegriffen und fast vier Jahre gefangen genommen, ehe er 1787 durch Kaution freikam.
In Leipzig trat Seume schließlich eine Stelle als Sprachlehrer an und studierte hier von 1789 bis 1792 Jura und Philologie. Danach wurde er Sekretär eines russischen Generals und erlebte die polnische Revolution, wo er als russischer Leutnant in Gefangenschaft geriet. Wieder in Leipzig, wurde Seume zunächst Schulmeister und dann Korrektor und Lektor des Verlegers Georg Joachim Göschen, wo er maßgeblich an der Drucklegung der Werkausgaben von Friedrich Gottlieb Klopstock und Christoph Martin Wieland beteiligt war. Eine Arbeit, die für ihn jedoch in einen anstrengenden „Komma-Kleinkrieg“ ausartete.
Von April bis September 1805 unternahm Seume seine zweite große Reise, die ihn durch Russland, Finnland, Südschweden und Dänemark führte. Sein Bericht darüber „Mein Sommer 1805“ war noch weniger eine Reisebeschreibung als sein „Spaziergang nach Syrakus“, er war vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen, vor allem in Russland. Seume beschrieb die entwürdigende Lage der Landbevölkerung und kommentierte wütend die Leibeigenschaft als Sklaverei. Zunächst von den Idealen der Französischen Revolution durchdrungen, verurteilte Seume nun Napoleons hemmungslose Eroberungs- und Unterdrückungspolitik. Sein radikaler Reisebericht war wie ein politisches Gewitter und wurde im französisch besetzten Süddeutschland, in Polen, Österreich und Russland sofort verboten.
In den folgenden Jahren verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, und Johann Gottfried Seume starb am 13. Juni 1810 im böhmischen Teplitz, wo er zu einem Kuraufenthalt weilte. 1813 erschien posthum seine fragmentarische Autobiografie „Mein Leben“.
Seume war der Typ des kulturhistorischen Reiseschriftstellers, der mit Genauigkeit und Nüchternheit über die Verhältnisse in fremden Ländern berichtete. Die meisten Intellektuellen seiner Zeit hatten wenig Verständnis für seine Sicht der Dinge, doch seine lebendigen und realistischen Reiseberichte haben bis heute ihren kulturhistorischen Wert behalten, und sie begeistern immer noch durch ihre leidenschaftlichen Bekenntnisse. Und so bleibt Johann Gottfried Seume nicht nur der – neben Fontane – berühmteste Wanderer der deutschen Literaturgeschichte sondern auch ein hellsichtiger Aufklärer und Gesellschaftskritiker. Von ihm stammt übrigens auch ein Diktum – nachzulesen in der Vorrede zu „Mein Sommer 1805“ –, das heutige Politiker sich jeweils vor Beginn ihres Tagwerkes in Erinnerung rufen sollten: „Politisch ist, was zu dem allgemeinen Wohl etwas beiträgt oder beitragen soll.“