16. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2013

Ein „toller“ Vorschlag zur Beseitigung der Bildungsmisere

von Dieter B. Herrmann

Dass es in Deutschland mit der Bildung junger Leute nicht zum Besten steht, hat sich in den vergangenen Jahren herumgesprochen. Zwar versichern uns Politiker immer wieder, sie hätten aus den internationalen Vergleichsstudien die richtigen Schlüsse gezogen, doch beim nächsten Test sieht es dann meist nicht viel besser aus. Natürlich ist jede neue Idee höchst willkommen, wie man dem Übelstand beikommen könnte, hängt doch letztlich die Zukunftsfähigkeit des Landes davon ab.
Nun ist man in Hamburg kreativ geworden: im Stadtteil Wilhelmsburg soll 2014 die erste staatliche Schule entstehen, die ihren Unterricht nach den Grundsätzen der Waldorf-Pädagogik gestaltet. Bislang sind die rund 225 Waldorf-Schulen in Deutschland lediglich staatlich anerkannte Ersatzschulen, die in freier Trägerschaft betrieben werden. Auch das ist schon bedenklich genug, erhalten diese Schulen immerhin namhafte staatliche Zuschüsse aus Steuermitteln, während die staatliche Schulaufsicht gegenüber den Schulen kein Weisungsrecht besitzt.
Doch wo liegt das Problem? Sind nicht Waldorf-Schulen Teil jener schon bei Rousseau, Comenius und Pestalozzi beginnenden Bewegung der Reformpädagogik, die in Bildung und Erziehung den „ganzen Menschen“ im Auge hat? Gehören nicht Waldorf-Schulen zu jenen pädagogischen Bestrebungen, die neben Verstandesschulung auch das erlebnisbetonte und handlungsorientierte Lernen mit dem Ziel betreiben, selbstbewusste und selbsttätige junge Menschen zu entwickeln? Wurde nicht durch solche und andere Ansätze die alte preußische Pauk- und Drillschule zum Guten verändert? Wie erfreulich, wenn es sich so verhielte!
Die Lehrpläne der Waldorf-Schulen gehen auf die anthroposophischen Lehren des vor über 150 Jahren geborenen Rudolf Steiner (1861-1925) zurück, die schon damals stark umstritten waren und heute weithin als wissenschaftlich widerlegt gelten, abgesehen von der Anhängerschaft Steiners, die dies natürlich ganz anders sieht. Wer mit dem staatlichen Schulsystem unzufrieden ist (und dazu gibt es manchen Grund), sucht verständlicherweise nach Alternativen. Doch ist die Waldorf-Pädagogik eine gute Wahl? Steiners anthroposophische Lehre enthält unter anderem die Vorstellung, dass sich die Entwicklung des Menschen in Jahrsiebten vollzieht. In den ersten sieben Lebensjahren entwickele sich der Leib und Lernen sollte in dieser Zeit ausschließlich durch Nachahmen erfolgen, da es an kognitiven Fähigkeiten noch mangele. Selbst im zweiten Jahrsiebt, in dem sich der „Ätherleib“ herausbilde, könnten die Kinder noch nicht begrifflich denken. Sofern naturwissenschaftliche Fächer überhaupt vor der 9. Klasse gelehrt werden, erfolgt dies durch „Erleben“, indem zum Beispiel Experimente vorgeführt werden, deren wissenschaftliche Hintergründe aber ausgespart bleiben. Pflanzen anschauen, zeichnen, ihre Schönheit bewundern oder Geschichten über sie anhören, das steht im Zentrum, nicht die Vermittlung von Kenntnissen über den Aufbau oder die Funktion von Pflanzen. Urteilskraft ist nicht gefragt: „Es handelt sich nicht darum, dass das Kind über alles sofort ein Urteil bildet“, schreibt Steiner, „sondern, dass es zwischen dem 7. und 15. Jahre das, was es aufnehmen soll, aufnimmt aus Liebe, aus Autorität zum Erzieher“. Entsprechend mächtig ist die Rolle des Klassenlehrers, dem so die Aufgabe zufällt, das „Karma“ seiner Schüler zu erkennen, das von ihren „früheren Leben“ geprägt ist. In der Tat: zur Anthroposophie Steiners gehört auch die Lehre von der Wiedergeburt. Nur wenn der Lehrer das „Karma“ seiner Schüler zutreffend erkennt, kann er sie entsprechend richtig führen und Störungen in der Entwicklung oder sogar Krankheiten vermeiden. „In der Waldorfschule herrscht der Lehrer“, schreibt Klaus Prange, einer der Waldorf-Kritiker, „er ist der König, absoluter Monarch und an keine Konstitution gebunden“. Im dritten Jahrsiebt wird nach Steiner der „Astralleib“ der Kinder geboren, der Seelenleib, der die Unsterblichkeit der Seele des Menschen begründet und die makroskopischen Gesetze des Universums widerspiegelt. Steiners Folgerung für die Schule: Nunmehr (jetzt erst!) kann auch der stärker wissenschaftlich geprägte Unterricht beginnen. Allerdings ohne Lehrbücher (ohne Benotung ohnehin)! Der gesamte Stoff wird durch den Lehrer vermittelt und in „Epochenhefte“ der Schüler verwandelt. „Kulturkritik“ ist aber laut Steiner nicht gestattet. Die Vermeidung einer kritischen Sicht des Schülers auf Wissenschaft, Kunst und Politik soll der Garant dafür sein, dass den Kindern kein Schaden zugefügt wird. Und die Überzeugung Steiners, dass Elfen, Gnome, Kobolde und Wichtelmännchen den Lauf der Dinge beeinflussen (wie Steiner in seinen Schriften kundtut) – könnte den Kindern vielleicht dadurch Schaden entstehen? Wir wissen es nicht genau. Wir wissen ohnehin manches nicht so genau, weil es ja keine Lehrbücher gibt, die immerhin einer Beurteilung zugänglich wären.
Genug der Details, es kann sich hier ohnehin nur um Andeutungen handeln und es mag auch manche Waldorf-Schulen und -Lehrer geben, auf die das alles nicht in vollem Umfang zutrifft.
Jedenfalls hat die Hamburger Idee einer staatlichen Waldorf-Schule die „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften“ (GWUP) auf den Plan gerufen. In einer Petition fordert sie ein nochmaliges Überdenken dieses Vorhabens. In der Petition heißt es: „Waldorfpädagogik wird leider immer wieder fälschlicherweise für eine harmlose, antiautoritär-fortschrittliche Erziehungsform gehalten. Wir von der GWUP […] hingegen sehen in der Waldorfpädagogik eine gefährliche Ideologie, die anti-aufklärerisches, anti-wissenschaftliches und im schlimmsten Fall sogar rassistisches Gedankengut vermittelt. Der Schaden, den eine solche Erziehung bei Kindern und Jugendlichen anrichten kann, ist kaum abzuschätzen. Wir warnen daher ausdrücklich davor, der Waldorfpädagogik in Form eines Schulversuchs noch größeren Zulauf zu bescheren und ihr vielleicht sogar ein offizielles politisches Gütesiegel zu verleihen.“
Binnen weniger Tage haben mehr als 1000 Persönlichkeiten diese Petition unterschrieben. Der ehemalige Waldorf-Lehrer Robert Spengler schreibt in einem Kommentar sogar, dass er die „Anthroposophie mitsamt der Waldorf-Pädagogik als eine Art Sekte“ betrachtet. Nun darf man gespannt sein, wie sich die Hamburger Politiker und mit welcher Begründung letztlich entscheiden werden.
Anno 1924 hat Rudolf Steiner einen Vortrag in Paris gehalten. Unter seinen Zuhörern befand sich auch Kurt Tucholsky. In der Weltbühne beschrieb er, wie er den Anthroposophen – er nennt ihn „Jesus Christus des kleinen Mannes“ – empfunden hatte: „Die ganze Dauer des Vortrages hindurch ging mir das nicht aus dem Kopf: Aber der glaubt sich ja kein Wort von dem, was er da spricht! (Und da tut er auch recht daran.)“. Um so schlimmer, dass knapp 100 Jahre später die Bildungsexperten des Hamburger Senats daran glauben.

Der Autor ist Mitglied des Wissenschaftsrates der „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften“