16. Jahrgang | Nummer 2 | 21. Januar 2013

Der Kampf um das menschliche Ich

Die globale Bewusstseinsindustrie entsteht: Was wird aus dem Menschen und seinem Selbstbild unter dem Einfluss von Neurotechnologie und Transhumanismus?

von Roland Benedikter, Santa Barbara, Kalifornien / Karim P. Fathi, Berlin

Das Jahr 2013 steht, mehr noch als im Zeichen politischer Umwälzungen, wirtschaftlicher und Schuldenkrisen oder regionaler militärischer Konfrontationen, auf globaler Systemebene im Zeichen eines unaufhaltsam beginnenden „Jahrzehnts des Bewusstseins“. Dass diese Tatsache von ebenso vielen Beobachtern als Drohung wie als Chance verstanden wird, ist angesichts der Ambivalenz der damit verbundenen Entwicklung kein Wunder. Roland Benedikter und Karim Fathi über die Entwicklung der globalen Bewusstseinsforschung zur Bewusstseinsindustrie – und die Perspektiven.

Die Entstehung eines „neuro-industriellen Komplexes“

2012 war nicht nur das Jahr, in dem die globalen militärisch-ökonomischen Komplexe auf Rekordniveau stagnierten und damit ihren Druck auf Regierungen zu konfrontativen Gesten erhöhten, wie etwa am deutlichsten die chinesische Militär- und Rüstungsindustrie auf die neue Regierung Chinas (deren Ausgaben allerdings neben denen Russlands am stärksten stiegen). Ähnlich wie bereits 2011 betrugen die Gesamtausgaben für militärische Zwecke laut Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI etwa 1,25 Billionen Euro, das sind 3,4 Milliarden Euro pro Tag. In den meisten entwickelten Ländern, etwa in Deutschland, sind die Rüstungsausgaben heute drittgrößter Ausgabenposten hinter dem Sozialen und dem Schuldendienst. Die Macht des militärisch-ökonomischen Komplexes und sein Einfluss auf die internationale Entwicklung sind also erheblich.
Doch im Hintergrund, wenn auch in der öffentlichen Rationalität Europas noch weitgehend unbemerkt und jedenfalls unterdiskutiert, war 2012 noch etwas potentiell weit Wichtigeres im Gang: die schleichende Verwandlung der internationalen Bewusstseinsforschung zur globalisierten Bewusstseinsindustrie – unter anderem mittels des massiven Schwenks des auf 50 Billionen Euro geschätzten globalen Spekulationskapitals von der Immobilien- und Derivatespekulation nicht nur in den Lebensmittel- und Rohstoffbereich, sondern exponentiell zunehmend auch in die Neurotechnologie und ihre Zuliefer-, Seiten- und Ergebnisfelder.
Mit Investitionen von mehr als 300 Milliarden US-Dollar allein in die Neurotechnologie und ihre Anwendungsfelder und einem bereits heute auf mindestens drei Billionen Euro geschätzten Industriewert sowie konstant 25-30 Prozent jährlichen Zuwachsraten seit 2005, die laut Minimalschätzungen in den nächsten zehn Jahren auf mindestens demselben Niveau weitergehen, nach anderen Schätzungen sich verdoppeln bis verdreifachen werden, ist die Bewusstseinsindustrie auf dem Weg, in kurzer Zeit ein ernsthafter Konkurrent des militärisch-ökonomischen Komplexes zu werden – und zwar auf ähnlich avantgardistischem technologischen Niveau wie dieser. Nicht nur der letzte Nuffield Council on Bioethics Report vom November 20111 stellt fest, dass Neurotechnologie und ihre Seitenbereiche sowohl global wie exponentiell „fortschreiten”. Die Explosion der Investitionen in die Bewusstseinsindustrie der vergangenen Jahre wurde möglich durch ihre Ausweitung auf grundlegende Disziplinen wie Anatomie, Physiologie und Pharmakologie; zweitens, durch den ökonomisch-industriellen Zusammenschluss von neuen Disziplinen wie Genetik, Nanowissenschaft, Cyberwissenschaft mit Anthropologie, Philosophie und Ethik.
Kein Wunder, dass die Rüstungsindustrie alles tut, um an der neuen Bewusstseinsindustrie teilzuhaben: sich mit ihr frühzeitig zu verbinden, ja sich möglichst breit und netzwerkartig-dynamikorientiert („rhizomatisch“) mit ihr zu vermischen. Dass die führenden Militärmächte Neurotechnologie und Mensch-Maschine-Direktschaltung zunehmend als Zukunft der Waffentechnologie ansehen, trägt zum exponentiellen Wachstum öffentlicher Investitionen bei. Betrug der Anteil militärischer Investitionen der Leitmacht USA in die Bewusstseinsindustrie, darunter insbesondere in die Neurotechnologie und ihre Derivate, 2009 noch 500 Millionen US-Dollar, so waren es 2012 vorsichtig geschätzte drei Milliarden – Tendenz rasch steigend. Dazu kommen ähnliche Entwicklungen in China sowie in Russland, beide auf derzeit noch niedrigerem Niveau, das in etwa die Unterschiede der Rüstungsbudgets widerspiegelt.
Technologien wie BCI’s (Brain-computer interfaces, das heißt meist bereits drahtlose Direktverbindungen zwischen Gehirn und Computer), Gehirnimplantate, Neuroprothetik, Neurales Engineering oder Transkranielle Magnetische Stimulation (das heißt magnetische Stimulation durch die geschlossene Schädeldecke) gehören bereits heute zu den am schnellsten wachsenden globalen Investmentbereichen. Und dies ist laut Expertenprognosen erst der Anfang. Zu Recht schreibt die in den USA sitzende internationale Lobbyorganisation „Neurotech“, dass Neurotechnologie, „das heißt die Anwendung von Elektronik und Ingenieurskunst auf das menschliche Nervensystem nun kombiniert ein Niveau an kommerzieller und wissenschaftlicher Reife erlangt hat, das enorme Vorteile produzieren wird – und riesige Gewinne für Investoren verspricht.“2

Vier Grundpfeiler der neuen „Humanindustrie“

Derzeit zeichnen sich vier Grundpfeiler der neuen Industrie ab, die möglicherweise schon bald auch die herkömmliche Computerindustrie an globaler Bedeutung ablösen wird. Es geht in den kommenden Jahren darum, 1. menschliches Bewusstsein zu erforschen (aktuell beispielsweise durch die nicht mehr nur kollektive, sondern zunehmend individualisierte Simulation des Gehirns in Computeralgorithmen, künstlicher Intelligenz und mathematischen selbstlernenden Programmen); 2. es möglichst unvermittelt und ohne Reibungsverluste mit Maschinen zusammenzuschalten (beispielsweise durch Gehirn-Maschinen-Schnittstellen oder durch kybernetische Prothesen); 3. es zu heilen (beispielsweise in der gehirnzentrierten elektronischen Stimulationsbehandlung von Depressionen); und 4. es zu erweitern (unter anderem mittels Steigerung seiner Leistungsfähigkeit der Informationsverarbeitung und -speicherung).
Dadurch entsteht derzeit sowohl wirtschaftlich wie auch in den Rang- und Hackordnungen der globalisierten Industrie eine neue Konstellation, ohne dass die verfügbaren Rankings dies dem Durchschnittsinvestor bisher angemessen offenlegen. Während Computer- und Internet-gestützte Firmen wie Apple oder Google, ja sogar eine Internetseite wie Facebook, die an sich nichts produziert, sondern streng genommen nur ein Treffpunkt ist, heute bezogen auf den Börsenwert die wertvollsten Unternehmen der Welt sind, werden sie voraussichtlich schon innerhalb dieses Jahrzehnts durch Firmen abgelöst, die diese Technologien in die „physisch konkrete“ Bewusstseinsindustrie überführen und zu diesem Zweck das menschliche Ich mit den fortgeschrittensten Technologien verschmelzen. Neuro-Computer-Schnittstellen, Gedankensteuerung von Maschinen, Implantattechnologie, biotechnologische Hybridspeicher (wie zum Beispiel Biobatterien, die 2012 in Stanford einen revolutionären Durchbruch erzielten und mittels der Kombination von Chip- mit lebendigem Zellmaterial und entsprechenden integrierten Kühlvorrichtungen zur Steigerung seiner Langlebigkeit ein neues Niveau von Speicherkapazität und Leitungsgeschwindigkeit versprechen), Biocomputer, künstliche Intelligenz und neuartige Mensch-Maschine-Waffensysteme sind die Schlagworte, die die Bewusstseinsindustrie bald zur Ablöserin aller bisherigen Hochtechnologie-Leitbereiche machen könnte. Das globalisierte Militärwesen hat das mit Ausnahme Europas längst verstanden – nicht nur in den USA, sondern auch in China.

Das große Paradoxon unserer Zeit:
Die technologische Revolution „fünfter Generation“ macht das „Ich“ zur wichtigsten Frage

Mit diesen Entwicklungen tun sich nun aber auch ganz neue Fragen zur Zukunft des Menschen, ja zu den bevorstehenden Veränderungen von Begriff und Konzeption des Menschseins an sich auf. Diese Fragen sind in Teilen nichts anderes als die Wiederkehr der ältesten Fragen – in einer nun gänzlich veränderten zivilisatorischen, technischen und Paradigmen-Situation. So stehen die aktuellen Entwicklungen, soweit sie konzeptuell und philosophisch reflektiert werden, im Zeichen eines so genannten „Jahrzehnts des Bewusstseins“. Bereits in den Jahren 2007 und 2009 fanden in den USA bedeutende Tagungen zum Thema „Jahrzehnt des Bewusstseins“ (Decade of the Mind) statt, das von 2012 – 2022 als multidisziplinäres Cluster-Projekt unter US-Führung die internationale Forschung zum menschlichen Bewusstsein zusammenführen und in eine ganzheitliche und integrative Diskussion führen soll. Dabei geht es nicht nur um technologische Veränderungen oder ökonomische Investitionsvolumen, sondern zentral auch um das davon unweigerlich berührte Selbstbild und die Zukunft des menschlichen Ich als Ganzem.3
Darunter ist vor allem die Klärung der bedeutendsten offenen anthropologischen Fragen der Gegenwart: Wie produzieren die Aktivitäten des menschlichen Gehirns jene Phänomene, die wir „Bewusstsein“ nennen? Wie formt umgekehrt das Bewusstsein das Gehirn? Was folgt daraus für Begriff und Konzeption, was für die Zukunft des „Ich“, so wie es bisher verstanden und gesellschaftlich praktiziert wurde?
Das Ergebnis der bisherigen Tagungen war eine Deklaration über das „Jahrzehnt des Bewusstseins“, welche durch eine Investition von vier Milliarden US-Dollar realisiert werden soll. Seit 2009 wurden die in Amerika entstandenen Grundgedanken zu einem globalen Leitbild, insbesondere unter Mitwirkung von Europa und Asien, in mehreren Detailtagungen formalisiert und der US-Regierung zur Finanzierung vorgelegt – bisher aufgrund des globalen Anspruchs und Ängsten der Obama-Administration, dies könne gegenüber aufstrebenden Mächten wie China zu einem Know-How-Verlust führen, ohne definitives Ergebnis.
Vor dem Hintergrund einer immer schneller global ausgreifenden Bewusstseinsindustrie rücken philosophische Fragen nach dem menschlichen Ich ins Zentrum disziplinübergreifender politischer, wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Debatten. Dabei entsteht das Paradoxon, dass die technologische Revolution das „Ich“ zur wichtigsten Frage macht, wo doch ausgerechnet die Technologie als Sinnbild für das„ichfernste“ gilt – ja laut den meisten zeitgenössisch führenden Denkern wie Bill Joy, Adam Keiper oder Colin McGill das „Andere des Ich“ oder das „Gegenbild des Ich“ ist.
Eingedenk der Tatsache, dass Technologie seit einigen Jahren zum ersten Mal in der Geschichte in der Lage ist, den bisherigen Menschen in etwas vollkommen Anderes zu verwandeln, als er bisher war, stellen sich nicht nur Anwendungsfragen im Grenzbereich zwischen menschlichem Körper und Technologie, sondern vor allem erkenntnistheoretische und normative Fragen über die wünschenswerte Zukunft des Menschseins „an sich“. Der gegenwärtige erkenntnistheoretische Diskurs ist folgerichtig vor allem von einer neuen „Seele-Leib-Debatte“ geprägt, in der materialistische (Motto: „Es gibt keinen Geist, nur Gehirnprozesse sind real“), idealistische (Motto: „Nur der Geist zählt“) und dualistische Ich-Bilder (Motto: „Geist und Gehirn sind völlig unterschiedliche Kategorien“) miteinander konkurrieren. Die Frage ist, welches dieser Bilder sich durchsetzen wird im großen zivilisatorischen Gegenwartskampf um das Ich. Und genau hier beginnt der spannendste Teil dessen, was heute vorgeht.

Der große Zeit-Kampf um das Ich: Humanismus gegen Transhumanismus

Maßgeblich wird die Bewusstseinsindustrie nicht nur von der US-amerikanischen Kultur geprägt, sondern vor allem von der aus dem angelsächsischen Raum stammenden Philosophie des Transhumanismus. „Transhumanismus“ ist eine global ausgreifende Ideologie mit Hauptsitz am „Zukunft der Menschheit Institut“ der Universität Oxford. Sie dominiert heute die normative Diskussion und Teile der politischen Diskussion um die Zukunft des Menschen. In ihr überwiegt ein von radikalen Idealisten materialistisch ausgelegtes Ich-Bild: ein „materialistischer Idealismus“. Dieser will den Menschen „über sich hinausführen“ hin zu einem „neuen Menschen“. Im weitesten Sinne will der „Transhumanismus“ den menschlichen Leib in einen Cyborg verwandeln, oder aber – parallel dazu – den menschlichen Geist in einem Computer-Algorithmus so reproduzieren, dass er letztlich in seiner bisherigen Erfahrungsgestalt überflüssig wird.
Die Tendenz, den Diskurs über die Zukunft der Menschheit von einem „Humanismus“ zu einem „Transhumanismus“ zu überführen, prägt, proportional wachsend zur Zunahme der Investitionen und zur Profilierung der Bewusstseinsindustrie, das Gespräch darüber, was aus dem Menschen in den kommenden Generationen werden soll.
Aus der Auseinandersetzung mit der Natur, Erforschung und Veränderbarkeit des menschlichen Bewusstseins erwachsen in der Tat vielfältige ethisch-normative Fragen, die sich im Zuge der Entwicklung der oben beschriebenen neuen Industrie stellen: Was am „Ich“ werden, was an ihm sollen wir bewahren und was werden wir verlieren, wenn die Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine weitergeht? Wird das menschliche Ich unangetastet bleiben, oder wird es zu einem „ganz anderen“ werden? Und wenn letzteres der Fall ist, wird damit ein Verlust an Menschlichkeit, oder ein Gewinn an Lebensqualität verbunden sein?
Diese und weitere logische und ethische Fragen lassen sich heute noch nicht so beantworten, dass sie für alle Seiten ausreichend befriedigend akzeptabel sind. Humanismus und Transhumanismus stehen sich derzeit weitgehend unversöhnlich gegenüber. Der Humanismus will am bisherigen Menschenbild festhalten, da er es als Grundlage für sämtliche Errungenschaften der offenen Gesellschaften ansieht: Menschenrechte, persönliche Würde und Unverletzlichkeit, Autonomie, Individualität, Demokratie. Das Kernziel des Transhumanismus dagegen besteht darin, die geistigen, körperlichen und emotionalen Fähigkeiten des Menschen mit Hilfe von Wissenschaft und Technologie umfassend auszudehnen und biologisch bedingte Begrenzungen zu überwinden – und sei es um den Preis der Preisgabe aller bisherigen aufklärerischen Errungenschaften. Dabei fühlt sich der Transhumanismus wenig bis kaum der Aufklärung, sondern eher dem Erbe des Renaissance-Humanismus verpflichtet. Er teilt mit ihm mehrere Aspekte, einschließlich eines stark funktional und pragmatisch gefärbten Respekts vor Vernunft und Wissenschaft, der Anerkennung des Notwendigkeit des menschlichen Bestehens sowie einer Verpflichtung zum Fortschritt. Zugleich lässt sich diese Bewegung von einer hedonistischen Philosophie leiten, in der es darum geht, Glück, Wohlbefinden, Lust und Freiheit, insbesondere durch technologische Entwicklung so weit als möglich zu steigern.
Im Zentrum des transhumanistischen Diskussionsansatzes über die Zukunft des „Ich“ und des Menschen insgesamt steht vor allem die Anwendung künftiger und neuer Technologien, unter anderem

  • Lebenszeitverlängerung: dem Alterungsprozess dauerhaft Einhalt gebieten.
  • „Human Enhancement“ Technologien: Technische Anwendungen, welche die natürlichen Fähigkeiten eines Menschen verbessern oder erweitern sollen.
  • Gehirn-Computer-Schnittstellen: Verbindung des menschlichen Gehirns mit einem Computer und Steuerung von Maschinen (darunter Prothesen) durch Gedankenkraft.
  • „Uploading und Upshifting“: das „Hochladen“ des menschlichen Bewusstseins in digitale Speicher, entweder durch einen plötzlichen („Uploading“) oder graduellen Wechsel („Upshifting“).
  • Entwicklung von Superintelligenz: Erschaffung von Wesen oder Maschinen mit verschiedenen Formen selbst-referentieller Intelligenz (inklusive Problemlösungsfähigkeit), die dem Menschen überlegen sein soll.
  • Weiterentwicklung der Kryonik: Kryonik bezeichnet die Kryokonservierung (z.B. Kälteschlaf) von Organismen bzw. einzelnen Organen (meist des Gehirns und des Rückenmarks), um sie – sofern möglich – in der Zukunft wiederzubeleben.

Bekannte und besonders technikoptimistische Transhumanisten sind der schwedische Philosoph Nick Bostrom oder der US-amerikanische Erfinder Ray Kurzweil. Letzterer prognostiziert für das Jahr 2045 eine technologische Singularität – also einen Zeitpunkt, an dem eine künstliche Intelligenz die menschliche in allen Bereichen überflügle und hinter den man daher nicht weiter in die Zukunft schauen könne, weil die heutige Intelligenz nicht ausreichen würde, die folgenden Entwicklungen zu antizipieren. Nach Kurzweil wird der Mensch aber schon vorher nicht nur geistig, sondern nun auch körperlich massiv mit intelligenter Technologie verschmelzen und vor allem durch die Entwicklung von Superintelligenz und „Uploading“ / „Upshifting“ nicht mehr sterben müssen. Dieser Mensch wird sich im heutigen nicht mehr wiedererkennen.

Die kommenden Jahre: Ein neuer „ideologischer Krieg“?

Die Frage, inwiefern transhumanistische Zukunftsprognosen über die technologische Entwicklung realistisch sind, wird jedoch kontrovers diskutiert – beispielsweise vom Soziologen Max Dublin oder dem Genetiker Steve Jones. Wichtiger als die Machbarkeitsdimension dürfte aber die Frage sein, ob und inwieweit die ethischen und anthropologischen Konsequenzen der vom Transhumanismus geprägten Vision von der Zukunft des Menschen wünschenswert ist. Vor diesem Hintergrund ergeben sich vor allem in einer disziplin- und dimensionübergreifenden Perspektive kritische Einwände, die für die Stoßrichtung des „Jahrzehnts des Bewusstseins“ entscheidend sein dürften.
Hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Grundannahmen fällt auf, dass der Transhumanismus einen starken materialistischen Schwerpunkt aufweist. Wie erwähnt lassen sich die meisten Vertreterinnen und Vertreter als „materialistische Idealisten“ bezeichnen – es sind reine Idealisten, die den Menschen vom Körper „erlösen“ wollen, um das Leiden zu beenden. Demnach sind Glück, Wohlbefinden und die Abwesenheit von Leid die zentralen Lebensmotive des Menschen und daher auch erstrebenswerte Lebensziele. Diese Feststellung ist durchaus philosophie- und disziplinübergreifend weitgehend anerkannt – von der modernen Glücksforschung bis hin zu den alten spirituellen Weisheitstraditionen oder der alten griechischen Philosophie. Allerdings bestehen hinsichtlich der konkreten Strategien zur Erreichung von Glückseligkeit und Erfüllung sehr unterschiedliche Betonungen zwischen den einzelnen Disziplinen – von der Überwindung des Leids in der eigenen Psyche durch meditative Praxis (Weisheitstraditionen) bis hin zu sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren (Glücksforschung).
Der Transhumanismus fasst die Feststellung vom Glück als zentrales und erstrebenswertes Daseinsziel des Ichs demgegenüber rein materialistisch auf: Technologischer Fortschritt, als Königsweg menschlicher Entwicklung aufgefasst soll den Menschen „befreien“, indem sie den menschlichen Körper optimiert und langfristig sogar ersetzt. Die dahinter liegende Grundannahme lautet: Der menschliche Körper selbst ist die Ursache allen Leids und Glücks; Wohlbefinden und die Abwesenheit von Leid können durch die Optimierung der Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers erlangt werden.
Über die aus dieser Technologie-zentrierten und tendenziell materialistischen Grundannahme resultierenden Konsequenzen lässt sich jedoch nicht nur trefflich streiten. Denn in normativer Hinsicht und, vor allem auch unter Berücksichtigung anderer Disziplinen, stellen sich grundlegende Fragen über die Auswirkungen auf das Menschsein, die mit den vom Transhumanismus geforderten (und geförderten) Eingriffen auf den menschlichen Körper einhergehen werden. In Zukunft ist daher mit hoher Wahrscheinlichkeit ein neuer „ideologischer Krieg“ zu erwarten, der die kommenden Jahre der Grundsatzdiskussion um Individualität und Gemeinschaft, Selbst und Kollektiv, Körper und Geist, aber auch um den neuen Schlüsselbegriff einer „resilienten Gesellschaft“ immer breiter prägen wird. Man wird diese Diskussion in den kommenden Jahren, je weiter die Bewusstseinsindustrie in das alltägliche Leben der Menschen vordringt, nicht mehr nur in Expertenzirkeln führen, sondern wird ihr täglich in den Nachrichtensendungen anhand konkreter Fälle begegnen.

Ausblick

Die Klärung der sich aus dieser – derzeit völlig offenen und ergebnisunsicheren Diskussion – ergebenden Fragen bedarf in den kommenden Jahren mit wachsender Dringlichkeit eines integrierten Ansatzes, der sich durch Multidimensionalität und Multidisziplinarität auszeichnen muss, um die unterschiedlichen Sichtweisen über den aktuellen „Kampf um das menschliche Ich“ miteinander zu verknüpfen und zu ausgewogeneren Schlussfolgerungen über die Richtung zu kommen, die die Menschheit im „Jahrzehnt des Bewusstseins“ einschlagen kann und soll. Der unseres Erachtens erforderliche integrierte Diskurs über das menschliche Ich könnte in diesem Zusammenhang einem „neohumanistischen“ Ansatz den Weg ebnen – und zu der aktuell in der Bewusstseinsindustrie dominierenden Ideologie des „Transhumanismus“ ein dialektisches, „neo-humanistisches“ Gegengewicht aufbauen.
Insgesamt gilt: Die Frage nach dem menschlichen Ich wird zur neuen Zentrumsfrage unserer Zeit. Oder etwas wissenschaftlicher ausgedrückt: zu ihrem paradigmatischen Leitstern. Denn das, was wir „Ich“ nennen und normalerweise unmittelbar und fraglos als den Ursprung und Kern aller Dinge erleben, wird sich während seines Aktes der Bewusstwerdung nicht nur einer „Welt“, sondern vor allem seiner selbst bewusst. Damit wird das Ich nicht nur das Subjekt bleiben, das nach dem Bewusstsein fragt, sondern zugleich auch das Objekt werden, nach dem gefragt wird. Das Bewusstsein fragt nach sich selbst. Dies macht das Ich zum großen, zentralen Rätsel unserer Zeit und damit zum zentralen Kern aller Bewusstseinsforschung. Um es in den Worten des Bremer Philosophen Thomas Metzinger auszudrücken: „Das Problem des Bewusstseins bildet heute – vielleicht zusammen mit der Frage nach der Entstehung unseres Universums – die äußerste Grenze des menschlichen Strebens nach Erkenntnis.“4
Doch die Diskussion darüber, was aus diesem „Ich“ werden wird, wenn die zunehmend in den menschlichen Körper, insbesondere in Gehirn und Nervensystem eindringenden neuen Bewusstseins- und Körpertechnologien das Ich-Bewusstsein auf neue physiologische Grundlagen stellen, hat gerade erst mit einer gewissen Ernsthaftigkeit begonnen. Da die Folgen voraussichtlich weitreichend sein werden, wie bereits jede auch nur anfängliche Berücksichtigung der Psychosomatik nahelegt, ist die entstehende globale Bewusstseinsindustrie gut beraten, eine integrative, ihrer Natur nach kritische Diskussion über die Vorgänge nicht nur nicht zu behindern und mittels eines einseitig gewinnorientierten Lobbyismus in ihre Richtung zu ziehen, sondern im Gegenteil mit einem Teil der Profite durch freie Schenkungen aktiv zu fördern. Diese Diskussion wird sowohl humanistische wie „transhumanistische“ Aspekte möglichst vorurteilsfrei einbeziehen müssen. In Zukunft bietet sich dazu auch in Deutschland mittels eines neuen Universitäts-Instituts über Zeit- und Entwicklungsfragen der Menschheit in Berlin die Möglichkeit. Die Bewusstseinsindustrie sollte diese Chance nutzen.

  1. http://www. nuffieldbioethics.org
  2. http://www.neurotechreports.com
  3. R. Benedikter, J. Giordano und J. Olds: Jahrzehnt des Gehirns, des Verstandes – oder der Vernunft? Die IV. Vorbereitungstagung zu einem „Jahrzehnt des Bewussteins 2010-2020“ DOM-IV (Decade of the Mind) in Albuquerque, New Mexico. Bericht dreier Hauptredner. In: Berliner Debatte Initial. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs, Herausgegeben von der Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Forschung und Publizistik Berlin, 20. Jahrgang, Heft 3/2009, Berlin 2009, Seite 134 -149.
  4. T. Metzinger: Das Problem des Bewusstseins.
    http://www.philosophie.uni-mainz.de/metzinger/publikationen/1995e.html.