15. Jahrgang | Nummer 20 | 1. Oktober 2012

Wer aber stiftet, was bleibt?

von Anne Dresden

Seit vielen Jahren erscheint eine Buchreihe, die junge Menschen verführen möchte, sich mit Weltliteratur zu beschäftigen: Im Bertuch-Verlag Weimar hat Wolfgang Brekle bis dato zwölf Bände von zwölf Autoren über zehn deutsche Schriftsteller sowie Dostojewski und Leo Tolstoi unter dem Titel „Bertuchs Weltliteratur für junge Leser“ herausgegeben. Ein Projekt, das – als beharrlich fortgesetzter Versuch, für Literatur und ihre Schöpfer zu begeistern – nur bewundert werden kann. Und das allein im Vertrauen auf das Buch gewordene Wort und die Spannung dessen, was über das Leben und Werk bedeutender Literaten mitzuteilen ist. Denn die Publikationen sind nur sparsam illustriert und eine App, die das Lesen der vorliegenden Bücher ersetzen könnte, kann man für die „Kennst du … ?“-Reihe auch nicht herunterladen.
Das Kompositionsprinzip der Bände ist ebenso einfach wie überzeugend: Es werden von den Autoren ausgewählte Texte, die das Attribut „repräsentativ“ verdienen, wiedergegeben und vom jeweiligen Verfasser komprimiert kommentiert. Letztere Texte sind kursiv gedruckt. Die Texte der vorgestellten Autoren werden im Normaldruck wiedergegeben. Gedichte werden gewöhnlich in Gänze zitiert, dramatische und epische Texte nolens volens nur in Auszügen.
Am Anfang des Bandes „Kennst du Hölderlin?“, der sich an junge Leser ab dem 17. Lebensjahr richtet, steht eine kurze Geschichte der Rezeption des Dichters, beginnend mit der Erwähnung von Wilhelm Waiblingers Hölderlin-Porträt von 1831 und endend mit einem Hinweis auf den DEFA-Kinofilm „Hälfte des Lebens“ von 1984. Auch Johannes R. Becher wird zitiert, der Hölderlins Gedichte als „Sprachwunder“ pries, die „kein Mensch, sondern die Sprache selbst geschaffen“ habe. Becher wollte im Überschwang der Begeisterung des Guten zu viel. Dieses Lob ist fatal und bringt Hölderlin um das, was für die Nachgeborenen gerade den Reiz seines Lebens ausmacht: Die Diskrepanz zwischen dem unsteten, unerfüllten Dasein und der Erhabenheit seiner Dichtung. Hans-Jürgen Malles wiederum notiert eingangs: „Hölderlin ist der jugendlichste aller deutschen Dichter um 1800.“ Allein der Verfasser weiß, was das bedeuten mag. Denn mit gleichem Recht ließe sich das etwa auch von Friedrich von Hardenberg alias Novalis sagen, der zwei Jahre jünger war als der Schwabe.
Bürgerlich etabliert hat sich Hölderlin bekanntlich nie. Nach seinem Theologiestudium war er als Hofmeister, sprich: Hauslehrer, bei Charlotte von Kalb im thüringischen Waltershausen (wo er, was Hans-Jürgen Malles unerwähnt lässt, die Gouvernante geschwängert haben soll) tätig und später in gleicher Funktion dann bei dem Bankier Gontard in Frankfurt/Main. Dort verliebte sich Hölderlin in Susette, die Gattin seines Arbeitgebers. Ihr widmete er 1799 seinen Roman „Hyperion“ mit dem Eintrag: „Wem sonst als Dir.“ Die Diotima des Buches ist quasi eine Wiedergängerin der Geliebten. „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ ist auch und vor allem für junge Leser alles andere als eingängig. Hans-Jürgen Malles zitiert immerhin auf über 40 Druckseiten aus dem einzigen epischen Werk Hölderlins.
Mit dessen Namen verbindet man freilich in erster Linie Lyrik. Er ist der große Oden-Dichter nach Klopstock. Das dokumentiert die kluge Auswahl von Malles. „Lebenslauf“ ist ein weniger bekanntes, aber in sich rundes Gedicht. Das mag Hölderlin selbst auch geahnt haben, der es, durchaus ungewöhnlich für seine Dichtung, als vierzeilige Kurzode stehen ließ. Man wird das Erdendasein kaum bündiger fassen können: „Hoch auf strebte mein Geist, aber die Liebe zog / Schön ihn nieder; das Leid beugt ihn gewaltiger; / So durchlauf ich des Lebens / Bogen und kehre, woher ich kam.“ Asche zu Asche, Staub zu Staub. „Lebenslauf“ ist neben den von Malles auch zitierten Texten „An die Parzen“ und „Hälfte des Lebens“ einer der schönsten.
In Tübingen hat Hölderlin die längste Zeit gelebt oder – besser gesagt – mehr als drei Jahrzehnte in geistiger Umnachtung vegetiert. Die Fama daselbst wollte – mit Pierre Bertaux – wissen, er habe nur vorgegeben, verwirrt zu sein, um nicht als Jakobiner verfolgt zu werden. Wie auch immer. Mit 36 Jahren fiel er in geistiges Dunkel, doch erst mit 73 Jahren starb er. Seine letzte Ruhe fand Hölderlin auf dem Tübinger Stadtfriedhof, wo ihm heute Carlo Schmid und Kurt Georg Kissinger mehr oder minder nahe sind. Die Fehler im Vornamen („Friederich“) und im Geburtsdatum auf seinem Grabstein – auf die Hans-Jürgen Malles nicht eingeht – sind nur die beiden finalen i-Punkte einer tragischen Dichterexistenz. Doch wie kaum ein zweiter Lyriker vor und nach ihm hat Hölderlin die deutsche Poesie geadelt, auch wenn er formal ein Klassizist und kein Neuerer war. Es dauerte jedoch Jahrzehnte, bis das verstanden wurde.
Hans-Jürgen Malles bedauert in einer Nachbemerkung, einen großen Teil des Hölderlinschen Werkes unberücksichtigt und auf Erwähnung des Trauerspiels „Der Tod des Empedokles“ ganz verzichtet haben zu müssen. Aber eine typografisch großzügig angelegte Buchreihe kann mehr nicht leisten. Alles abwägend, ist es dem Hölderlin-Fachmann sehr gut gelungen, den – sagen wir – eigenartigsten aller schwäbischen Schriftsteller um 1800 und seine nicht immer leicht zu erschließende Dichtung jugendgemäß vorzustellen. Den Sinn aller Literatur fasste „Hölder“, wie ihn seine Freunden zu nennen pflegten, im späten Gedicht „Andenken“ – in dem er seine als Hauslehrer in Bordeaux gesammelten Einsichten bündelte – in die, laut Druckfassung, seither vielfach zitierten Worte: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ (In der Handschrift lautet der Vers: „Ein Bleibendes aber stiften die Dichter.“) Wahrlich, das tun sie.

Kennst du Friedrich Hölderlin? Vorgestellt von Hans-Jürgen Malles, Bertuch-Verlag, Weimar 2012,144 Seiten, 14,80 Euro