15. Jahrgang | Nummer 20 | 1. Oktober 2012

Die Zivilgesellschaft, Norwegen und der Breivik-Prozess

von Roland Benedikter, Santa Barbara, Kalifornien / Karim P. Fathi, Berlin

Dreizehn Monate hat die öffentliche Aufarbeitung des Breivik-Massenmords vom Juli 2011 durch Norwegen gedauert. Sie wurde von der regierenden sozialdemokratischen Arbeiterpartei mittels einer beispiellosen medialen und politischen Präsenz, täglicher kollektiver Trauer- und Erinnerungsarbeit und einer allgegenwärtigen sozialpsychologischen „Impfung“ gesteuert, der kein Bürger entgehen konnte. Am 24. August 2012 verurteilte ein Osloer Gericht Anders Breivik nach zehn Wochen Prozess wegen 77-fachen Mordes zur Höchststrafe von 21 Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung. Die fünf Richter folgten nicht der Forderung der Staatsanwaltschaft, Breivik für unzurechnungsfähig zu erklären und ihn in die Psychiatrie einzuweisen. Sie verurteilten Breivik einstimmig wegen Terrorismus und vorsätzlichen Mordes. Ein wesentlicher Aspekt ihrer Begründung besteht darin, dass es schlimmer sei, einen psychisch Kranken irrtümlich in ein Gefängnis zu stecken als einen Gesunden in die Psychiatrie.
Obwohl viele Norweger mit dieser Argumentation nichts anfangen können, wurde das Urteil mit großer Genugtuung aufgenommen, weil sie Breivik nicht als nicht schuldfähig einordnet, sondern persönlich zur Verantwortung zieht. Der Gesamtvorgang von Aufarbeitung, Erinnerungs- und Trauerarbeit und Gerichtsprozess wurde bei Prozessende insgesamt als großer Erfolg angesehen, vor allem von der norwegischen Regierung selbst.
Es gibt aber auch mehrere Achillesfersen, ja Widersprüche in dem Gesamtvorgehen, die die Freude über ein auf den ersten Blick gerechtes Urteil trüben. Und die, mehr noch, die von der norwegischen Regierung über ein 13-monatiges mediales Trommelfeuer immer wieder hervorgehobene „für die Welt bespielhafte Aufarbeitung eines historischen Massentraumas“ (Ministerpräsident Jens Stoltenberg) in Frage stellen.
Erstens nimmt sich Breivik als Gewinner in diesem Prozess wahr, da er sich durch das Urteil ernst genommen fühlt und nicht als krank abgestempelt wurde. Bereits die Verurteilung wegen Terrorismus ist eine – wenn auch so nicht intendierte – Anerkennung seiner „politischen“ Motive, die Breivik aufwertet. Dabei wäre eine Erklärung seiner Unzurechnungsfähigkeit in zweierlei Hinsicht durchaus von Vorteil gewesen. Zum einen hätte man Breivik, der sonst durch nichts zu berühren war, durch die Nichtanerkennung seiner Tat wirklich treffen können. Zum anderen hätte man die in ihrer Monstrosität kaum nachvollziehbare Mordtat mit der Psychiatrisierung des Täters aus dem Raum des Diskurses über die gesellschaftliche Verantwortung entfernt. Die Frage über Breiviks Zurechnungsfähigkeit bleibt durchaus umstritten – sie wird noch über den Prozess hinaus die Fachwelt und Prozessbeobachter spalten, da sie grundlegende rechtsphilosophische und -psychologische Fragen über die Kriterien von Schuldfähigkeit aufwirft. Selbst das zweite Gutachten, das Breiviks Zurechnungsfähigkeit bescheinigt, diagnostiziert bei ihm eine narzisstische und asoziale Persönlichkeitsstörung und einen völligen Mangel an Einfühlungsvermögen. Eine Psychiatrisierung Breiviks wäre plausibel und in gewisser Hinsicht „bequem“ gewesen, doch Norwegen hat den schwierigen Weg gewählt. Es hat Breivik ernst genommen und sich auf einen selbstquälerischen Prozess der Aufarbeitung von Versäumnissen, politisch Verantwortlichen und beitragenden Faktoren eingelassen.
Zweitens wurde durch die von der Regierung verordnete Allpräsenz der „Trauerarbeit“, die über 13 Monate jeden letzten Winkel des öffentlichen Gesprächs durchdrang, nach Empfinden vieler Norweger poltical correctness durchgesetzt. Diese agierte – wie kaum jemals in der neueren europäischen Geschichte – „im Namen des einen Guten und der einzig richtigen Haltung“ (Stoltenberg) und ließ dabei keinen Widerspruch zu. Die Kollektivierung von Gefühlen und der „völkische Zusammenschluss in den richtigen Werten, die wir uns nicht nehmen lassen und die unsere ureigensten sind“ (Stoltenberg), hatte etwas von der absoluten Behauptung einer Einheit des Volkes, die unter normalen Umständen nie möglich gewesen wäre. Viele Norweger sahen die Erinnerungs- und Aufarbeitungsextase der Regierung sogar zunehmend als Sozialregulativ und als Beispiel für die Allpräsenz einer alle Poren der Gesellschaft durchdringenden Macht, die insofern problematisch ist, als sie Wertekonsens nicht mehr institutionell, transparent und offen, sondern kulturell, sozialpsychologisch und unsichtbar herstellt. Es ist eine subtile Form der Kollektivierung, von der der französische Sozialphilosoph Michel Foucault bereits vor 30 Jahren behauptet hat, sie würde mittels des Appells an humanistische Werte mehr an gesellschaftlicher Assimilation und Entindividualisierung erreichen als jede andere Form postmoderner Machtausübung, weil man ihr nicht widersprechen könne, ohne als Unmensch zu gelten.
Drittens wurde Breivik, und das ist vielleicht der größte und wichtigste Widerspruch, durch das Regierungsverfahren des permanenten Erinnerungs- und Aufarbeitungszwangs nicht, wie es in säkularen und rationalen Gesellschaften notwendig ist, entzaubert und demystifiziert, sondern es wurde das genaue Gegenteil erreicht: Aus Breivik wurde ein – wenn auch negativer – Gründungsmythos der norwegischen Gesellschaft von jetzt an für alle Zeiten. Hat aber ein Massenmörder, der Kinder und Unschuldige wahllos und gewollt abschlachtet, ewige Erinnerung verdient? Oder wäre die härtere Strafe das Vergessen? Kann es wirklich sein, dass man zum „unauslöschlichen Teil der Geschichte einer Nation“ (Stoltenberg) werden kann – ohne Anstrengung, einfach mit einer Pistole und einem Gewehr? So einfach ist das?
Erinnern wir uns hier an die Griechen, die am Ursprung Europas standen: Mörder ließen sie die härteste Strafe angedeihen: das totale Vergessen. Der Name wurde gestrichen, das Haus niedergebrannt, die Eltern verbannt, die Stelen geschliffen, kurz: der Mörder wurde aus der Gemeinschaft der Menschen, und das heißt: aus der Gemeinschaft der Erinnerung verbannt. Das war seine härteste Strafe, die Löschung, die völlige Hingabe an den Lethe. Ist es also wirklich so, dass „Breivik einen der tiefsten Einschnitte in der norwegischen Geschichte bedeutet, der auf ewig präsent sein muss“, wie Ministerpräsident Stoltenberg mit übertriebenem Pathos darlegte? Oder definiert sich eine widerstandfähige Gesellschaft in Wahrheit dadurch, dass sie das Erinnern und Aufarbeiten fein und balanciert einzusetzen weiß, es zeitlich konzentriert, und es in angemessener Weise mit Verdrängung und Vergessen austariert? Wenn es richtig ist, dass, wer alles vergisst, keine Identität haben kann, dann ist es ebenso richtig, dass, wer nur mehr erinnert und aufarbeitet, kein Leben und keine Zukunft mehr hat.
Was lässt sich angesichts dieser unübersehbaren Probleme nun insgesamt aus dem Umgang mit Breiviks Anschlägen, die die norwegische Gesellschaft in einen Kollektivschock versetzten, über ihre Resilienz, sprich: ihre Widerstandsfähigkeit und damit auch Zukunftsfähigkeit, aussagen? Wie steht es, am Beispiel des Falls Breivik gesehen, um die Fähigkeit der norwegischen Gesellschaft, mit unerwarteten Krisen umzugehen?
Nicht wenige Beobachter sprechen Norwegen eine hohe Verwundbarkeit zu – also das genaue Gegenteil von Resilienz. So besteht Einigkeit darüber, dass die erfolgreiche Durchführung von Breiviks Anschlägen am 22. Juli 2011 durch ein massives Versagen der norwegischen Polizei begünstigt wurde. Die vielfältigen Pannen sind im kürzlich veröffentlichten Untersuchungsbericht dokumentiert. Einige Beobachter leiten daraus ein tiefer liegendes mentales Defizit der norwegischen Gesellschaft ab, welches sich in einer verfehlten Naivität, Blauäugigkeit und in Gutmenschentum manifestiere und nun grausam bestraft wurde. Die Konsequenzen, die für Norwegen daraus zu ziehen seien, seien „nicht nur sicherheitspolitische“.
Andererseits resultiert gerade aus Norwegens Offenheit und humanitärer Ausrichtung eine hohe Resilienz. Weltweit erfuhr und erfährt das Land Bewunderung für seinen souveränen und abgeklärten Umgang mit dem Prozess. Das Osloer Gericht hat keinen Moment den Pfad verlassen, den es von Beginn an beschritten hatte, und unter Anstrengung aller Kräfte diesen Fall behandelt, als wäre es ein Fall wie andere. Weder haben sich die norwegischen Medien zu populistischer Stimmungsmache hinreißen lassen, noch hat die Zivilgesellschaft mit Lynchrufen reagiert, noch wurden in der Politik Verschärfungen des Strafrechts gefordert. Letztlich hat sich Norwegen nicht aus der Façon bringen und nicht statt der Vernunft die Wut herrschen lassen. Wie hätten Österreich, Deutschland oder die USA agiert? Wir behaupten, dass – unbeschadet der genannten Probleme, die deshalb nicht unter den Teppich gekehrt werden sollten, – kaum ein Land im Westen angesichts einer ähnlich schweren Krise vergleichbare Besonnenheit an den Tag gelegt hätte. So gesehen lässt dies im norwegischen Fall durchaus auf eine hohe Resilienz schließen, die sich – von einer tieferen Perspektive her gesehen – aus vielfältigen sozialökonomischen, kulturellen und psychologischen Ressourcen speist. So schneidet das Land bei mehreren Länder vergleichenden Indikatoren, die empirisch erwiesene Rückschlüsse über das gesellschaftliche Konfliktpotenzial erlauben, mit den weltweit besten Durchschnittswerten ab. Demgemäß ist, aktuellen OECD-Studien und Umfragen aus der Glücksforschung zufolge, Norwegen nach wie vor führend mit hohen Werten in konfliktrelevanten Bereichen wie der relativen Wohlstandsverteilung, der Beschäftigungsquote, dem zwischenmenschlichen Vertrauen, der Toleranz, dem subjektiven Wohlbefinden und der Lebenszufriedenheit.
Fassen wir zusammen: Zeichnet sich die norwegische Gesellschaft durch eine hohe Resilienz aus? Ja – und dies umso mehr, wenn sie aus ihren gravierenden sozialpsychologischen, „mythenpolitischen“ und sicherheitspolitischen Fehlern lernt, ohne ihre eigentlichen Stärken abzulegen, die sie auf dem ersten Blick weich erscheinen lassen, die aber sozialen Konflikten vorbeugen. Inwieweit es Norwegen gelingt, diese beiden Aspekte miteinander zu verknüpfen, wird sich in Zukunft zeigen müssen.
Lassen sich die Resilienzfaktoren Norwegens auf andere Länder übertragen? Nein – zu spezifisch sind die strukturellen und kulturellen Rahmenbedingungen der skandinavischen Wohlfahrtsinseln und kleinfamiliären Gesellschaften. Und doch lässt sich vom norwegischen Vorbild der besonnenen Reaktionen von Zivilgesellschaft und Politik sowie der souveränen Prozessführung lernen – und zwar gerade dann, wenn man die ebenfalls auffälligen Schwächen nicht leugnet.