15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Gruppenabend

von Thomas Zimmermann

Böll zieht an seiner Zigarette und ich frage mich, wie ich Ingeborg später erklären soll, dass er auf ihre Plauerner Spitze ascht. Für jedes dieser kleinen, schwarz umrandeten Löcher wird sie mich gnadenlose auspeitschen – so gut kann der Böll ja gar nicht schreiben, dass sich so ein Ärger lohnt …
Dann kommt auch noch der Grass – wie immer zu spät – und schlimmer kann es jetzt ja gar nicht mehr kommen. Erst stopft er sich die Pfeife und sieht sich ein bisschen um. „Schön hast du’s hier“, sagt er gönnerisch und lässt sich noch mal nachschenken. Dann kramt er ein Manuskript aus seiner Tasche und beginnt einfach zu lesen, obwohl doch grad der Siegfried Lenz noch liest. Für einen Moment lesen sie parallel, dann hört Lenz aufgelöst auf und entschuldigt sich mal kurz.
Grass liest und sieht dabei nicht auf. Ich glaube, der Hildesheimer ist inzwischen eingepennt. Oder er macht auf unauffällig. Aber den Walser hält es nicht zurück. „Der und sein ewiges Danzig“, knurrt Martin also und verpisst sich in die Küche ans Büfett. Grass hat das gar nicht mitbekommen. Er liest und liest und liest und eigentlich nuschelt er auch ein  bisschen an seiner Pfeife vorbei. Gabriele Wohmann hat ihn mal darauf aufmerksam gemacht, aber da hat er sie gleich in einem seiner Romane verheizt und seitdem traut sich das keiner mehr. Arme Gabi! Jetzt kommt sie gar nicht mehr, wenn sie weiß, dass der Grass auch da ist. Und dabei haben wir schon so wenig Frauen in unserer Gruppe 47! Grass, also wirklich! Aber es sagt ja niemand was.
Enzensberger hat jetzt doch leise vor sich hin gelacht und davon ist Hildesheimer aus seinem Nickerchen aufgewacht und hat gegluckst. Jetzt sieht sogar der Grass mit Runzelstirne auf. Er schmeißt sein Manuskript missmutig in die Ecke und wühlt in seiner Tasche. „Hat jemand Feuer?“, fragt er in die Runde und Böll hält ihm wortlos ein Streichholz hin. „Wir müssten politischer werden“, schlägt Grass vor, während er an seiner Pfeife zieht. „Anders geht das nicht mehr.“
Hildesheimer und Böll sind dagegen, weil sie denken, dass es schon jetzt genug ist mit der Politik, aber Enzensberger lacht nur spöttisch auf und so kommt es natürlich zu keiner ernsten Unterhaltung. Nun drückt sich auch noch der Lenz ins Zimmer zurück und fragt Hildesheimer, was denn eigentlich los sei, und damit ist die Unruhe komplett. Zu allem Überfluss zeigt Grass jetzt auch noch seine neuen Grafiken – wieder Pimmelpilze – und schreit laut: „Genau das hab ich gemeint! Genau das!“
Da steht der Uwe Johnson auf, obwohl er sonst ja nicht so ist, und langsam wird es stiller. „Lies doch mal weiter!“, fordert Uwe Grass auf, und während alle ziemlich entsetzt aufstöhnen, fühlt sich Grass geschmeichelt und sucht sein Manuskript zusammen. Böll rollt mit den Augen. Er kommt zu mir rüber und flüstert: „Find ich ganz groß von dir, dass du deiner Irmgard das mit dem Frisch gönnst.“ Ich verstehe nicht und will schon nachfragen, aber da ascht der Böll wieder auf die Tischdecke und ich verbeiße mir einen Kommentar.
Die Zeit vergeht schleichend … Drei Grass’sche Pfeifen später klingelt es und ich reibe mir die Fäuste. Das wird doch endlich Irmgard sein, aber denkste! Der Reich-Ranicki steht in der Tür und kommt gar nicht dazu, mich zu grüßen, als er den Grass drinnen lesen hört. Stattdessen stürmt er in das Wohnzimmer und schreit laut: „Ein Unbuch! Günter, das kann doch nicht dein Ernst sein! Schreib doch endlich wieder mal was Besseres.“
Grass fällt vor Schreck die Pfeife aus dem Mund. Walser, der hinter Reich-Ranicki in das Zimmer gekommen ist, und Enzensberger lachen. Grass schäumt. Hildesheimer pennt schon wieder, wird aber von Johnson geweckt. Böll ascht gelassen auf die Plauener Spitze. Lenz geht lieber wieder zurück ins Bad. Es klingelt.
Irmgard, verstört. Ich, verstört. „Stimmt das mit Max Frisch?“, frage ich und weiß es ja schon. Es steht in ihren Augen. „Ach, tu doch nicht so …“, macht sie und ich knall ihr eine. „Siehste, genau deshalb!“, ruft sie und macht kehrt. Weg ist sie.
Im Wohnzimmer geht es drunter und drüber. Ich habe keine Lust, mir das jetzt anzutun. Ich gehe ins Bad, mein Gesicht zu waschen. Lenz hockt im Dunkeln auf dem Wannenrand. „Das macht mich echt fertig“, jammert er. „Ich glaube, wir haben zu viel Grass in der Gruppe.“
„Ja“, sage ich. „Und zu wenig Frauen.“