15. Jahrgang | Nummer 7 | 2. April 2012

Statistik und andere Lügen

von Heiner Flassbeck, Genf

Deutschland geht es gut! Das ist die wichtigste Nachricht, die unsere Politiker zu Jahresbeginn zu vermelden hatten und in großen Zeitungsanzeigen unters Volk brachten. Danke Deutschland. Na dann, lehnen wir uns zurück und betrachten das wunderbare Werk, das wir zustande gebracht haben.
Vielleicht muss Politik ja so sein. Vielleicht muss Politik den Menschen systematisch etwas vorgaukeln, was es nicht gibt. Vielleicht muss Politik dem Bürger jeden zweiten Tag ein X für ein U verkaufen. Vielleicht muss Politik ein schmutziges Geschäft sein, wo jeder versucht, kurzfristigen Vorteil herauszuschlagen nach dem Motto: Nach mir die Sintflut.
Aber ich kann mir nicht helfen, ich bin trotzdem wütend. Die gleichen Politiker, die immer wieder die Rettung der zukünftigen Generationen beschwören, tun Tag für Tag nichts anderes, als den zukünftigen Generationen zu demonstrieren, wie man niemals die Zukunft gewinnen kann, wenn man die Gegenwart verspielt. Wie sollen Generationen erwachsen werden und in der Lage sein, ein so komplexes Gebilde wie eine Demokratie zu erhalten und in seiner Funktionsfähigkeit zu verbessern, wenn ihnen heutige Politik zugemutet wird.
Eines der schlimmsten Übel ist die verbreitete Neigung, Statistik zu missbrauchen, um kurzfristiger politischer Scheinvorteile willen. Zur Statistik der Arbeitslosigkeit will ich mich gar nicht auslassen, das ist der größte Skandal überhaupt, seit Jahrzehnten. Es vergeht aber auch kein Monat, ohne dass – beginnend mit dem Statistischen Bundesamt und endend mit den letzten Provinzmedien – die Ergebnisse über die Binnennachfrage und den Konsum in Deutschland so lange mit politischer Schokoladensauce übergossen werden, dass es so aussieht, als ob die Deutschen auf Teufel komm raus konsumierten.
Man spürt die Absicht. Jeder, der halbwegs informiert ist, weiß, dass Deutschland wegen seiner schwachen Binnennachfrage international in der Kritik steht. Deutsche Medien und Politiker sagen den Bürgern das niemals offen, aber es wird jeder Anlass genutzt, um dem uninformierten Bürger und dem Ausland zu suggerieren, es sei alles in Butter. Auch dann, wenn alles Katastrophe ist.
Der deutsche Einzelhandelsumsatz ist der umfassende Indikator, der am klarsten zeigt, dass die Menschen in Deutschland kein Geld in der Tasche haben und genau deswegen nichts kaufen. Der preisbereinigte Umsatz (bei solchen stark schwankenden Reihen notwendigerweise saisonbereinigt) lag im Dezember 2011 nach Angaben der Deutschen Bundesbank bei einem Wert von 96,7 wenn der Wert von 2005 gleich einhundert gesetzt ist. Auch gegenüber dem Beginn des Erhebungszeitraums, 1994, ist der Umsatz kaum gestiegen und liegt heute unterhalb dieses Wertes. Das ist für eine wachsende Wirtschaft schlicht katastrophal, weil es klar zeigt, dass alles, was es seit Mitte der 90er Jahre an Aufschwung gegeben hat, an den Verbrauchern vorbeigegangen ist. Dem einfachen Menschen wird seit Jahren die Teilhabe am gemeinsam erarbeiteten Produktivitätsfortschritt verweigert. Mit dem Hinweis, nur über relativ sinkende Löhne sei Arbeitslosigkeit abzubauen, und man habe sie abgebaut.
Die stagnierende Binnennachfrage zeigt aber, dass das fundamental falsch ist. Genau deswegen darf sie auch nicht wahr sein. Relativ oder absolut sinkende Löhne würden nämlich in der Ökonomie laut herrschender Meinung überhaupt nicht zu einem Absinken oder Zurückbleiben der Nachfrage führen. Weil der Rückgang des Lohnes pro Kopf ja jederzeit ausgeglichen werde durch mehr Köpfe oder mehr Stunden, die gearbeitet werden. Auf diese Weise bliebe die Summe der ausbezahlten Löhne stets gleich oder stiege unverändert – und folglich die gesamte Nachfrage, selbst wenn der einzelne zu Lohn- und Konsumzurückhaltung gezwungen wird. So beweist das Zurückfallen der Binnennachfrage unmittelbar, dass die Politik des Löhnedrückens ein grandioser Fehlschlag war.
Aber nicht doch. Sie hat die deutsche Wettbewerbsfähigkeit verbessert und den deutschen Unternehmen gewaltige Überschüsse beschert, in deren Gefolge neue Arbeitsplätze entstanden. Sorry, immerhin ist seit Beginn dieses Jahrhunderts vom gesamten deutschen Wachstum exakt die Hälfte direkt als Beitrag vom Außenhandelssaldo gekommen. Wenn das kein Erfolg ist! Allerdings vergessen wir leicht, dass irgendwo auf der Welt das, was bei uns als positiver Beitrag gebucht wird, als negativer Beitrag anfallen muss. Für die Welt insgesamt gibt es keinen Beitrag vom Außenhandel.
Wenn also jetzt alle Welt die deutsche Politik der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit nachahmt, da es Deutschland ja scheinbar so gut geht, dann wissen wir genau, dass das in die Hose geht. Einfach weil es in diesem Fall logisch nicht möglich ist, dass alle das tun, was ein einzelner getan hat.
Warum sagt das nicht mal einer unserer Politiker? Wissen sie es nicht? Dann sollten sie schleunigst ihre Positionen verlassen. Wollen sie es nicht wissen, lassen sie die Welt sehenden Auges ins Verderben rennen? Dann ist es noch schlimmer, Massenrücktritte wären gefordert. Aber nichts dergleichen, alle sonnen sich im Lichte ihrer kleinen Taschenlampen und hoffen, dass ein Wunder geschieht und die Wirklichkeit endlich die lächerliche menschliche Logik überwindet.
Apropos Rücktritte: Es gibt dafür viele gute Gründe. Warum aber werden in der Öffentlichkeit die allerunwichtigsten bis in letzte Detail ausgebreitet und wirklich entscheidende vollständig ignoriert? Warum diskutiert niemand Rücktritte wegen Versagens im Amt? Warum fragt niemand, wer in Europa alles zurücktreten muss, wenn das wichtigste Projekt, die Währungsunion, gegen die Wand gefahren wird? Schlimm ist nicht, dass auch diese Fragen nicht leicht zu beantworten sind. Schlimm ist, dass sie nicht diskutiert werden, weil die Presse lieber recherchiert, wer in jüngster Vergangenheit einem Provinzfürsten gehuldigt hat, den man – offenbar aus Versehen – ins höchste Amt des Staates gehievt hatte.

Aus: Wirtschaft und Markt 03 / 2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.