15. Jahrgang | Nummer 5 | 5. März 2012

Nützliche Irritation

von Julia Michelis

„Die Summe meiner einzelnen Teile“ – du meine Güte, was ist denn das für ein Filmtitel? Doch die Rezensenten lobten die Arbeit und Regisseur Hans Weingartner ist vor einiger Zeit mit „Die fetten Jahre sind vorbei“ zu Recht in die erste Reihe junger deutscher Filmemacher gerückt. Seine herzerfrischende Geschichte von drei jungen Empörern hatte uns Lust auf mehr gemacht. So siegte Bonus über Zweifel, wir gingen hin. Und bereuten es lange quälende Minuten, in denen wir dem hoffnungslosen Abstieg eines psychisch labilen Mathematikers in die Obdachlosigkeit beiwohnten. Ich mochte verfilmte Krankengeschichten ohne gesellschaftliche Relevanz noch nie und wie sich hier die Story entwickelte, konnte das nur in die Katastrophe oder in ein genauso gruseliges Happy End führen.
Tatsächlich kommt eine glückliche Wendung: Der arme Mensch findet einen kleinen Gefährten. Sie ziehen in den Wald, klauen sich eine Hütte zusammen und leben glücklich und zufrieden. Der Mann gesundet, verliebt sich, kann auch hier hoffen.
Aber das darf Weingartner doch nicht ernst meinen – dieser Erfinder verrückter Geschichten, faszinierender Wendungen, changierender Charaktere! Natürlich nicht. Der Mann ist studierter Psychologe und Neurologe. Er weiß Etliches mehr von der Psyche des Menschen, als in einen happy endenden Wohlfühlfilm passt und hat keine Mühe, uns mit einer verblüffenden Wendung in die überaus komplexe Wirklichkeit menschlichen Lebens zu katapultieren. Nach diesem radikalen Perspektivwechsel sitzen wir in einem anderen Film – und uns hart gesottenen Kritikern bleibt für einen Moment die Luft weg. Nun ist statt Geschichten Konsumieren Nachdenken gefragt. Düsterer Abstieg und liebliche Idylle erhalten im Nachhinein ihren Sinn; sie sind Teil einer gesellschaftlichen Übereinkunft, die Weingartner zu befragen dringend notwendig findet. (Leider kann die Schreiberin hier nicht konkreter werden, ohne dem Film sein Geheimnis zu nehmen…) Noch auf dem Nachhauseweg lässt uns die Geschichte nicht los, es bleiben die überraschenden Fragen an sicher geglaubte Überzeugungen. Wann passiert einem das schon mit einem Film?
Eins zu Null für Weingartner!