15. Jahrgang | Nummer 4 | 20. Februar 2012

In memoriam Lisa Abendroth

von Andreas Diers

Lisa und Wolfgang Abendroth haben sich 1942 kennen gelernt, und nach ihrer Heirat lebten sie ständig zusammen. In der Folgezeit hat es dann keine Handlung, keine Aktion, keine Publikation Wolfgang Abendroths mehr gegeben, die sie nicht miteinander diskutiert hätten. Zeitweise ist Lisa Abendroth seine einzige, sicherlich aber in all diesen Jahren immer seine wichtigste und kritischste Gesprächs- und Diskussionspartnerin gewesen.
Lisa Abendroth war nicht nur promovierte Historikerin, sie hat mit der ihr eigenen Persönlichkeit auf entscheidende Weise dazu beigetragen, die Leistungen von Wolfgang Abendroth zu ermöglichen; sie hat einen Abschnitt linker Geschichte mitgestaltet – wie Heiner Halberstadt, ein Freund der Familie Abendroth, in einem Lebensbild Lisa Abendroths feststellte.
Lisa Abendroth wurde am 27. Februar 1917 als Tochter des Bremer Volksschullehrerehepaars Theodor und Margarete Hörmeyer geboren. Die Arbeitslosigkeit seit Ende der zwanziger Jahre ließ die Familie und auch Lisa Abendroths Lebenswelt nicht unberührt. Diese frühen Erlebnisse haben aber erst in ihrem späteren Leben Reflexion und Deutung erfahren. „Ich musste und wollte vor allem immer eine gute Schülerin sein“, sagte sie und begründete diese Einastellung folgendermaßen: „Nicht zuletzt, um einen Gebührenerlass zu erhalten; denn meine Eltern konnten aus ihrem schmalen Haushalt das nicht unbeträchtliche Schulgeld nicht aufbringen.“ Zehn Jahre lang besuchte sie in Bremen das Lyzeum. Es sei nicht einfach gewesen, sich dort als Tochter eines Volksschullehrers zu behaupten; denn die anderen Schülerinnen entstammten den oberen Klassen des Bremer Bürgertums.
Lisa Abendroth war in ihrem Elternhaus von vielen Büchern umgeben, die ihren Lesehunger weckten und befriedigten. Kinderbücher habe es keine gegeben; dagegen schöngeistige und viel Geschichtsliteratur – erinnerte sie sich. Letztere fand Lisa Abendroths besonderes Interesse.
Die Eltern seien entsetzt gewesen, als das Dritte Reich über Deutschland kam. Der Vater vor allem über den hoch brandenden Militarismus, die Mutter über die ausbrechende Gewalttätigkeit. Lisa Abendroth hatte bereits die den Faschismus rechtfertigenden Schriften von Alfred Rosenberg und von Gottfried Feder gelesen und sich kritisch mit diesen Werken auseinandergesetzt. Eigentlich habe sie Jura studieren wollen, was aber unter den Ausbildungsbedingungen des NS-Staats für Frauen kaum möglich war. So entschied sie sich für ein Studium als Deutschlehrerin. Zuvor musste sie aber in den Arbeitsdienst ins norddeutsche Moor. Es sei eine schreckliche Zeit gewesen, erinnerte sich Lisa Abendroth an die gebündelte ideologische und militarisierte Dummheit, der sie dort begegnete.
Im Studentenwohnheim schloss sie Freundschaft mit einer Studentin aus Frankfurt am Main, die aus einer sozialdemokratischen Familie stammte und die vor 1933 in Frankfurt unter anderem zusammen mit Emil Carlebach und Walter Hesselbach Mitglied im Sozialistischen Schülerbund gewesen war. Diese Freundin berichtete nun immer häufiger von einem „Instruktor“ dieser Organisation, der den Mitgliedern politische Theorie beigebracht habe. Dieser „Instruktor“ hieß Wolfgang Abendroth. Immer, berichtete Lisa Abendroth aus dieser Zeit, wenn sie etwas nicht richtig gewusst hätten, dann habe die Freundin gesagt: „Ach, wenn der Wolf doch hier wäre, der wüsste das natürlich!“ Lisa Abendroth wurde neugierig auf diesen „Dr. Allwissend“, wie sie ihn damals nannte.
Wie aber ist es 1942 gewesen, als sie ihm schließlich begegnete? „Ich war überrascht“, sagte Lisa Abendroth zu Heiner Halberstadt. „Er ist ja in der Gestapohaft schrecklich misshandelt worden. Aber darüber sprach er nicht. Ich wusste das nur von anderen. Ich dachte also und war dabei sehr befangen, da begegnet dir nun ein völlig verhärmter Mann. War aber nicht so. Ich erlebte einen durch und durch heiteren Menschen.“ Und sie fuhr fort: „[…] es ging dann sehr schnell mit uns.“ Wolfgang Abendroth habe ihr bald darauf vorgeschlagen zu heiraten. Dazu kam es jedoch nicht sofort. Obwohl Wolfgang Abendroth „wehrunwürdig“ war, wurde er eingezogen –in das Strafdivision 999. Diese wurde in die Ägäis kommandiert. Erst 1946 gelang es mit Hilfe von Jenny Lee, der Frau des linken Labourministers Ernest Bevin, Wolfgang Abendroth über die Zwischenstation in einem „Umerziehungslager“ in Großbritannien aus einem Kriegsgefangenenlager in Ägypten herauszuholen. Er kam nach Marburg. Lisa und Wolfgang Abendroth heirateten dort.
Wolfgang Abendroth wollte nun unbedingt das Assessor-Examen nachholen, , zu dem er im 3. Reich nicht zugelassen worden war, das er aber benötigte, um als Volljurist tätig werden zu können. Der damalige hessische Justizminister Georg August Zinn sagte zu Wolfgang Abendroth, in den Westzonen gäbe es dafür noch keine Prüfungskommission. Aber in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), da gäbe so etwas bereits. Mit seiner Frau angekommen in der SBZ, übertrug man ihm, statt ihn zu prüfen, sofort, bedeutende Funktionen in der neuen Justizverwaltung. Bald wurde er Hochschullehrer. Aber er weigerte sich, in die SED einzutreten. Wolfgang Abendroth war bereits während seiner Kriegsgefangenschaft in Großbritannien nach Diskussionen mit seinem damaligen sozialdemokratischen Freund Richard Löwenthal in die SPD eingetreten. Lisa Abendrot ängstigte sich angesichts des zunehmenden politischen Drucks, um ihren Mann politisch gefügig zu machen. Als es zu gefährlich wurde, flohen die Abendroths Ende 1948 in die westlichen Besatzungszonen.
1949 wurde Wolfgang Abendroth 1949 Rektor an der Hochschule in Wilhelmshafen/Rüstersiel. An dieser Hochschule unterrichtete auch Lisa Abendroth einige Zeit lang. Anschließend ist Wolfgang Abendroth zum Professor für „Wissenschaftliche Politik“ an der Universität Marburg berufen worden und wurde mehr und mehr zum politischen Kopf der demokratischen SozialistInnen in der Bundesrepublik. In allen gesellschaftspolitisch entscheidenden Entwicklungsphasen der BRD war er mit Argumentationshilfen und persönlichem Engagement zur Stelle und ständig unterwegs – auch nach seiner Emeritierung und dem Umzug der Familie nach Frankfurt am Main. Lisa Abendroth hat sich nach eigenen Aussagen gewünscht, es wäre etwas weniger aktiv gewesen. Sie hätte nämlich gern mit ihm zusammen zeitgeschichtliche Bücher verfasst, etwa über die Geschichte des antifaschistischen Widerstands und über die Geschichte der Bundesrepublik.
Wolfgang Abendroth starb 1985. Lisa Abendroth lebte seither in einem Seniorenheim in Frankfurt am Main. Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes veranlasst, dass sein umfangreicher Nachlass dem „Internationalen Instituts für Sozialgeschichte“ in Amsterdam übergeben wurde, wo dieser Nachlass der Forschung zur Verfügung steht. Und Lisa Abendroth hat selbst die Forschungen über Leben und Werk ihres Mannes sowie die Herausgabe seiner „Gesammelten Schriften“ unterstützt. Sie hat sich auch persönlich an den „Wolfgang Abendroth Foren“ beteiligt.
In der SPD hatte sie einige ehrenamtliche Funktionen wahrgenommen. Wenn sie auf Parteitagen auftrat, hat sie es nie an scharfer Kritik mangeln lassen.
2002 beendete sie ihre SPD-Mitgliedschaft. In einem Brief begründete sie ihre Entscheidung damit, dass die SPD ihre linke Identität aufgegeben habe. Lisa Abendroth erinnerte sich in diesem Zusammenhang auch an folgendes: „Wolf sagte gelegentlich zu mir und anderen, aus der SPD sollte man nicht von sich aus austreten […] Mitgliedschaft in der SPD endet durch Ausschluss wegen einer von den Führungsorganen erklärten Unvereinbarkeit sozialistischer Positionen mit und in dieser Partei.“ Wolfgang Abendroth selbst ist trotz aller von ihm kritisierten politischen Entwicklungen und Entscheidungen der SPD ganz bewusst nicht aus dieser Partei ausgetreten, sondern wurde vielmehr zusammen mit anderen wegen ihrer Unterstützung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) 1962 ausgeschlossen. „Doch nun verlasse ich aus eigener Entscheidung die SPD“, sagte Lisa Abendroth. Und – „ ich weiß nicht, ob Wolf das billigen würde.“ „Doch, Lisa“, meinte daraufhin Heiner Halberstadt. „Soeben habe ich gesehen, er hat genickt […]“
Am 4. Februar ist Lisa Abendroth kurz vor ihrem 95. Geburtstag gestorben.