15. Jahrgang | Nummer 4 | 20. Februar 2012

Begegnung am Tegernsee. Deutsche Heimatgeschichte

von Eckhard Mieder

Am dritten Tag kam es heraus. Wieder war uns ein Teller mit Ananas-Scheiben zusätzlich zum Frühstück serviert worden. Wieder schabten wir Kiwis aus und tranken Obstsäfte. Als der Mann, der auch am dritten Tag mit am Tisch saß, in seiner direkt-höflichen Art sagte: „Isch vermute ma, Sie stammen ursprünglisch aus Ostdeutschland.“
Wir bestätigten es, und ich schaute an mir herab. Ich war in gutes Tuch gehüllt, hatte nicht gekleckert, und ein SED-Parteiabzeichen hatte ich nie getragen. Es konnte demnach auch nicht aus den Wäschekörben der letzten zwanzig Jahre ins Hemd geklettert sein.
„Und warum?“, sagte der Mann und zeigte mit seinem Messer auf Ananas, Obstsaft und auf meinen täglichen Apfel.
Wir wussten inzwischen, dass er ein mit 60 Jahren pensionierter Kriminalist und enthusiastischer Wohnmobilist war. Außerdem sprach er sehr laut, kommentierte jede seiner Handreichungen am Tisch. „Ich nehme jetzt noch eine Scheibe Salami; ob ich mir noch ein Kännchen Kaffee bestelle? Klar, warum nicht, man lebt nur einmal!“
Boris Beckers Leistung schätzte er vor allem deshalb (gering), weil der „eine Negerin nach der anderen“ flach gelegt habe. Ansonsten könne der doch nicht mal richtig „rädn“. Immer nur „ähm, ähm, ähm“.
„Die Indizien!“, triumphierte er. Ananas. Apfel. Saft. „Obst!“
Seine Frau sprang ihm bei und half uns auf die Sprünge. Sie verfügte über jenes Maß an Empathie und an sozialer Kompetenz, über die auch Frauen verfügen, die nicht die hellste Kerze auf der Geburtstagstorte sind. Aber lebensgefuchst sind sie. Die wissen durchaus, wie Türen auf- und zugehen.
Sie hatte uns gestern Abend, als ihr Lebenspartner schon aufs Zimmer gegangen war, von seiner Schwerhörigkeit erzählt und dass wir, bitteschön, seine Äußerungen nicht so direkt nehmen sollten. Auch wenn er so geradezu sei. Nach dem Motto: Der bellt, aber beißt nicht.
Jetzt, am Frühstückstisch, unterstützte sie ihn. Sie erzählte von einem Mädchen – Cindy? Mandy? Carmen? –, welches das Friseurinnen-Handwerk bei ihr in Fulda erlernte. Die käme aus Thüringen und habe erzählt, dass sie keine Bananen kannte. Und reineweg verrückt sei das Mädchen nach den gelben Krummen und Obst überhaupt.
Ich schaute auf die Uhr. Sie zeigte 9.32 Uhr.
Ich blickte zur holzgeschnitzten, bunt bemalten und dezent auf Alt gefaketen Maria hoch. Sie trug ihren nackten Bengel im Arm. Das Duo stand überm Tisch in der Ecke, und die Mutter schaute konsequent an unserem Tisch vorbei auf den Fußbodenbelag. Jesus schaute zu ihr auf, wie es sich gehört. In ihrem Blick, darauf wette ich all mein Klopapier, lag gequältes Verständnis.
Ich überlegte, wie viel Zeit zwischen dem Jetzt und dem Damals vergangen war. Ich war mir nicht sicher, was ich mit Jetzt und was ich mit Damals meinte. 2012 und – Christi Geburt? 2012 und – die klangvolle Korrektur in die Vergangenheit um 1989/1990? Ich war mir nicht mal mehr sicher, ob ich ein Recht darauf hatte, zusammen mit meiner Frau eine Woche im „Alpenhotel“ zu verbringen. Am Tegernsee. Wo ja nicht jede Arschgeige rumfideln darf. Wobei das den Bayern nicht gerecht wird. Wann immer ich in ihrem Bundesland weilte, gab’s so ein Lüftchen von Exklusivem und Demokratischem; weiß der Teufel, wie die das produzieren. In Hessen und in Brandenburg weht ein anderer Wind.
„Ich hol’ mir noch Rührei!“, sagte der Mann am Tisch. Es klang wie ein Befehl. Ob sie auch noch was wolle, fragte er seine Frau. Sie schüttelte den Kopf. Diskret. Sie hatte ein Gespür, ein kleines. Wofür auch immer. „Na komm“, sagte er, „oder ein, zwei Scheiben vom Käse?“