14. Jahrgang | Sonderausgabe | 5. Dezember 2011

Mutter und Sohn: Briefe von Gertrud und Einar Schleef

von Anne Dresden

Im Juli 1981 beendete Einar Schleef einen Brief an seine Mutter Gertrud mit dem launigen Ausruf: „So Kopf hoch, Schmerz lass nach, Gruß Einar.“ Drei Jahrzehnte später, im Juli 2011, konnte man in der „Lesezeit“ bei MDR-Figaro Jutta Hoffmann und Thomas Thieme aus diesen Briefen vortragen hören. Aus urheberrechtlichen Gründen wird diese Radiolesung nicht als Hörbuch erhältlich sein. Aber auf die Lektüre der Briefe, die Gertrud und Einar Schleef zwischen 1977 bis 1990 wechselten, muss man nicht verzichten. Diese sind jüngst auf über 340 eng bedruckten Seiten als Buch erschienen. Illustrationen inklusive. Denn Einar Schleef hatte auch als Zeichner und Maler ein großes Talent und verzierte seine Schreiben an die Mutter in Sangerhausen deshalb oft und gern mit Farbstift- oder Aquarellzeichnungen.
Zwischen beiden stand ab Mitte der siebziger Jahre die Mauer. Deshalb die Korrespondenz. Der erste Teil des Briefwechsels, die Jahre 1963 bis 1976 umfassend, erschien bereits 2009.
Es ist notwendig zu erklären, warum diese Briefe durch Buchpublikationen nobilitiert werden: Einar Schleef (1944-2001) war einer der bekanntesten Theaterregisseure und ist, über seinen frühen Tod hinaus, ein bedeutender Schriftsteller, Maler und Fotograf. Seine Mutter Gertrud (1909-1993) ist nichts weniger als eine wichtige literarische Figur unserer Zeit. Denn sie und ihr Leben stehen im Mittelpunkt von Schleefs zweibändigem Roman „Gertrud“ (1980/1984).
Wenige Wochen vor der medienwirksamen Ausbürgerung von Wolf Biermann im November 1976 ist Einar Schleef – der in jenen Jahren als Bühnenbildner in Ost-Berlin tätig war und in Wien ein Frank-Wedekind-Stück inszenieren sollte – nicht wieder in die DDR zurückgekehrt. Er lebte erst in Frankfurt/Main und übersiedelte dann nach West-Berlin. Dass er die Zeit, da er keine Möglichkeit hatte, am Theater zu arbeiten, mit Schreiben überbrückte, ist ein großer Glücksfall für die Literatur. So entstand ein großes literarisches Werk, das einen Roman und zwei Kindergeschichten ebenso umfasst wie Erzählungen, Dramen und Tagebücher.
Sehr aufschlussreich ist der Briefband auch wegen der Entstehungsgeschichte von Schleefs Zweiteiler „Gertrud“ (1980/84) und der Poetologie, die dem gewaltigen, eintausend Seiten umfassenden Prosamonolithen zugrunde liegt. Dieses singuläre Provinz-Epos ist der Monolog einer alten Frau namens Gertrud aus Sangerhausen – und eine der wichtigsten Dichtungen der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einar Schleef hat noch an einem dritten Teil gearbeitet. Dieser ist – obwohl er parallel zu seiner aufreibenden Theaterarbeit und zu seiner Malerei stets geschrieben hat – nicht bis zur Veröffentlichungsreife gelangt.
Am 26. November 1980 übersendet Schleef seiner Mutter das Buch „Gertrud“ mit einem ausführlichen Begleitbrief. Allein schon die Tatsache, dass Frau Schleef das Buch auf dem Postweg erreicht hat, ist bemerkenswert. Denn Bücher und Zeitungen durften nicht in die DDR eingeführt werden. Seine Bitte, ihre Meinung über „Gertrud“ zu schreiben, wird Einar Schleef in den nächsten Wochen und Monaten mehrfach wiederholen. Aber leider hat die Mutter das Werk schriftlich kaum kommentiert. In dem besagten Brief bittet er die Mutter auch, gegenüber Bekannten nicht zu viel über das Buch verlauten zu lassen, da er einen zweiten Teil plane. Dieser erschien dann 1984. Während der Arbeit an den Büchern treibt Schleef seine Mutter an, ihm Erzählchen aus ihrem Leben und Nachrichten von historischen und aktuellen Geschehnissen aus Sangerhausen mitzuteilen. Was die Mutter berichtete, hat er nicht selten direkt in den Roman-Doppelpack übernommen. Der erste Band stieß sogar bis in die Bestenliste der Wochenzeitung „Die Zeit“ vor. Dennoch muss Schleef am 3. September 1981 mit Blick auf „Gertrud“ gegenüber Gertrud festhalten: „Trotz bester Kritiken, verkauft sichs schlecht, solche Sachen will niemand, braucht Zeit, um sich durchzusetzen.“ Leider liegt dieser große Roman noch heute wie Blei in den Regalen. Nichtsdestotrotz ist er ein literarisches Jahrhundert-Ereignis wie Thomas Manns „Buddenbrooks“ und Uwe Johnsons „Jahrestage“.
Am 7. September 1978 vermeldet Filius, wie ihn Gertrud in ihren Schreiben auch nennt, aus Zürich: „Du, die Gegend um Verona sieht aus wie der Harz […]“. Wie soll man auch einem Menschen, der in der DDR eingesperrt ist, die weite Welt erklären? Mit Vergleichen eben. Seine Mutter, die dem Jahrgang 1909 entstammte, war seit 1969 Rentnerin, das heißt seit langem reiseberechtigt. Doch nach einer Fahrt 1977 wurden alle folgenden Anträge auf Reisen zu ihrem ältesten Sohn Hans-Reiner in die Bundesrepublik von den DDR-Behörden jahrelang abgelehnt. Einar empfahl am 4. Mai 1978 Beschwerde an höchster Stelle: „Hast Du Honni schon geschrieben, bitte überwind dich.“ Aber das Schreiben an den Staatsrat blieb wirkungslos. Das Perfide: Begründungen für Reiseverbote mussten laut DDR-Gesetzgebung nicht gegeben werden. Gertrud vermutete richtig, dass ihre Reisewünsche abschlägig beschieden wurden, weil ihre beiden Söhne in der DDR als Republikflüchtlinge galten.
Einar Schleef schreibt von seinen aufregenden Aufgaben als Autor und Theaterregisseur, aber meistens nur in Andeutungen, und bewertet, gleich wo er sich in der westlichen Welt befindet, Sangerhäuser Vorgänge und Ereignisse in der Verwandtschaft, als wäre er nur kurz abwesend. Privates, wie sein Leben mit Gabriele Gerecke, erwähnt er nur am Rand. Stets erwartete er aber mit großem Interesse die Alltäglichkeiten, die seine Mutter aus Sangerhausen schrieb. Denn Gertruds Berichte über ihre Krankheiten und die Schwierigkeiten einen Klempner zu bekommen, die Polizeiberichte und ihre Kaffeeausflüge sind der Quell seines Schreibens. Eigen ist beiden die Aufforderung an den jeweils anderen, sich doch öfter mal zu melden. Der Mauerfall von 1989 wird gar nicht thematisiert. Und nach 1990 erlahmt der Briefwechsel.
Die Korrespondenz von Gertrud und Einar Schleef, die hier einander auch „Wuffel“ und „Muffel“ nennen, ist, trotz der stellenweisen Banalität des Mitgeteilten, ein wichtiges persönliches und zeithistorisches Dokument. Die in immerwährender Hassliebe gewechselten Briefe geben Aufschluss, wie aus einem Leben in der deutschen Provinz große Literatur wird.

Gertrud und Einar Schleef: Briefwechsel 2 – 1977-1990. Herausgegeben von Susan Todd und Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Theater der Zeit, Berlin 2011, 343 Seiten, 25,- Euro