14. Jahrgang | Sonderausgabe | 5. Dezember 2011

Ein Lehrbuch der menschlichen Untaten

von Benjamin Korn*

„Ich selbst habe gesehen, wie die Deutschen Säuglinge in die Schlucht hinabwarfen. In der Schlucht befanden sich nicht nur Erschossene, sondern auch Verletzte und sogar lebende Kinder. Dennoch schütteten die Deutschen die Schlucht zu; dabei war zu bemerken, dass sich die dünne Schicht über den Menschenleibern bewegte.“

Die Zeugin Gorbatschewa am 28. November 1941

Als im März 1942 Albert Hartl, ein Gestapo-Fachmann für Kirchenfragen, mit Blobel, dem Organisator des Massakers, an der Schlucht vorbeifuhr, sah er kleine Explosionen, die Erdsäulen aufwarfen. Die Erde bewegte sich wieder im Babij Jar. Es waren nicht die Schreienden, Stöhnenden, Weinenden, die von der Erde und den auf ihnen lastenden Toten erdrückt wurden und erstickten. Es war jetzt das Tauwetter, das die Gase der tausenden Leichen freiließ, und Blobel erklärte stolz: „Hier liegen meine Juden begraben.“
In der Erinnerung von Anatolij Kusnezow bewegte sich diese Erde ein Leben lang. Vierzehn Jahre war er alt, als er seinen „Roman nach Fakten“ zu schreiben begann, und er war bald vierzig, als er ihn zum erstenmal ungekürzt und unverstümmelt von der stalinistischen Zensur veröffentlichen konnte. Um ihn zuende zu schreiben, musste er sogar das Haus seiner Mutter, das unweit der Schlucht lag, verlassen, „denn ich konnte nicht schlafen. Nachts hörte ich es im Traum immerzu schreien …“
Die Erde bewegt sich nicht mehr im „Babij Jar“, und die Toten haben aufgehört zu schreien. Aber sie schreien weiter in der Erinnerung der wenigen Zeugen, die noch am Leben sind; und sie schreien in den Werken der Kunst, die sich dem Vergessen entgegenstemmen, im großen Gedicht „Babij Jar“ von Jewgenij Jewtuschenko, in der Dreizehnten Symphonie von Schostakowitsch, sie schreien im unvergesslichen Roman von Kusnezow („Wir haben kein Recht, diesen Schrei zu vergessen: Er ist nicht Geschichte geworden. Er ist unser Heute.“), und wir, die wir ihn gelesen haben, werden es schwer haben, ihn aus unserem Gedächtnis zu streichen; denn wir leben in Deutschland, einem Land, in dem der Völkermord nicht Geschichte werden will und sich nicht abheften lässt wie eine Akte. Er bebt seit 60 Jahren unter unseren Füßen nach.
Das Beben reißt keine Abgründe mehr auf wie zu Kriegsende, und es überschüttet unsere überforderten Sinne nicht mehr mit den Knochen der Toten und der Überlebenden aus den Konzentrationslagern, aber es hat noch Kraft genug, die Schweizer Konten zu durchrütteln, in denen auf einmal das Geld der Ermordeten zu tanzen beginnt, es schüttelt die Gemälde von den Wänden der französischen Museen, die sie bis vor zwei Jahren vor den beraubten Juden versteckten, es reißt die Fenster in den Chefzimmern der deutschen Konzerne und Großbanken auf, die sich an die Mörder verkauften und am Gold der Toten mästeten.
Wir sind nicht frei, den Genozid zu vergessen. Jeden Tag werden wir daran erinnert, durch neue Klagen und neue Verurteilungen, durch ein neues Buch, einen neuen Film, durch Klosprüche und Friedhofsschändungen.
Einigen der Überlebenden klebte die Zunge 60 Jahre lang am Gaumen, und sie löst sich erst heute; hier gesteht ein alter Nazi ein unaufgeklärtes Verbrechen, dort werden die Bauern des polnischen Städtchens Jedwabne ins Verhör genommen, weil sie, den deutschen Mördern zuvorkommend, ihre 1.200 jüdischen Mitbürger in einer Scheune verbrannten. Im Jahre 2001, 60 Jahre nach den Ereignissen, die Kusnezows Roman ausgelöst haben, laufen in Italien 100 Ermittlungsverfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher, tauchen in einem Wiener Archiv 12.000 vergessene Akten von Gestapo-Opfern auf, wird in Deutschland ein 83-jähriger ehemaliger SS-Mann wegen sieben-fachen Mordes zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt, belagern Historiker aus aller Welt die Geheimarchive des Vatikan, die über die zwielichtige Rolle der katholischen Kirche und Pius XII. im Zweiten Weltkrieg Auskunft geben sollen.
Der Weltkrieg war ein Meteoreinschlag der Menschheitsgeschichte, und den Menschen werden noch lange die Brocken um die Ohren fliegen. Die Wellen des Erd- und Seebebens, das dem Einschlag folgte, gehen nicht mehr so hoch, aber sie haben an Breite zugenommen und überziehen heute den halben Globus mit den berechtigten Ansprüchen all derer, die noch etwas einzufordern haben und die von den Erben der Industriellen, die sie bis aufs Blut ausgebeutet haben, heruntergefeilscht, diffamiert und von der Öffentlichkeit mit der hochnäsigsten Verachtung behandelt werden.
Und die Rückwelle dieser noch nicht zum Stillstand kommenden Bewegung ist der Wunsch nach Vergessen. Die Menschen möchten vergessen, und wie sehr begreife ich, dass sie vergessen möchten, denn sie müssen sich ungerechterweise an Taten erinnern, die nicht von ihnen, sondern von ihren Vätern und Großvätern, ihren Ahnen begangen wurden. Sie drohen, an der Tonnenlast der Vergangenheit zu ersticken. Und die Kinder der Opfer, denen die KZ-Wächter in ihren Träumen auf dem Herzen herumtanzen, wollen gleichfalls vergessen, denn sie wollen endlich aufhören, mehr unter den Toten zu leben als unter den Lebenden. Aber das Vergessen lässt sich nicht dekretieren. Die Zeit des Vergessens ist noch nicht gekommen.
Wir werden von den Büchern der Kinder und Kindeskinder überschwemmt, von Theorien, die nicht mehr von der Erfahrung des Lagers, sondern vom Hass auf das Land der Mörder gespeist werden – Bücher über die Schuld der Deutschen in der Art von Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ oder Filme wie Spielbergs „Schindlers Liste“. Sie haben ein simples und durchschlagendes Rezept: Sie teilen die Menschen in gute Völker und böse Völker, Mörder und Opfer, Wölfe und Lämmer, und weil wir denkfaul sind und aufgrund unserer moralischen und religiösen Erziehung eine Tendenz haben, die Menschen in gut und böse aufzuteilen, haben diese Bücher und Filme einen gewaltigen Erfolg.
Ich habe lange die Fotos betrachtet, auf denen man die Angehörigen des Sonderkommandos 4a sieht, das im Babij Jar so entsetzlich gewütet hat und das Tal in ein Schlachthaus verwandelte. Ich kann nichts Böses in diesen Menschen entdecken, solange ich auch in die Gesichter blicke. Sie gleichen einem Lehrer, einem Schauspieler, einem Schulkameraden. Sie sind wie du und ich, wie der Nachbar von nebenan. Sie befestigen auch nicht die Theorien, die da sagen, die Deutschen seien ein einmalig schlimmes Volk. Sie haben es ja mit Hilfe der ukrainischen Hilfstruppen getan, mit Hilfe der Weißrussen und Balten, die ihre Privatpogrome veranstaltet haben, mit Hilfe der französischen Miliz in Oradour-sur-Glane, mit Hilfe von Denunzianten, Kollaborateuren und großer Teile der Bevölkerung in den besetzten Ländern. Sie geben, so lange man sie auch anschaut, keinen Anhaltspunkt für all die manichäistischen Theorien, die die Menschen in Gut und Böse teilen. Die Massaker werden immer von Menschen begangen, die sich zu den Guten zählen. Der Böse, das sind die andern! Schopenhauer drehte diesem Satz den Kragen um und stellte ihn auf die Füße: „Wer vom Hass beseelt, feindlich eindränge auf seinen verhasstesten Widersacher, und bis in das Tiefinnerste desselben gelangte, der würde zu seiner Überraschung sich selbst entdecken.“
Kusnezow vergisst in seinem gewaltigen Fresko über Babij Jar und den Krieg in Kiew nicht sich selbst. Er beschreibt die Nazis und ihre Helfershelfer, aber er zeigt an Ukrainern und Russen, seinen Bekannten und Schulfreunden, dass es leicht ist zu werden wie sie, er verleugnet nicht einen seiner mörderischen Impulse („ich war böse, ich hätte den Hund mit der Säge getötet, hätte ihn gebissen, ihm mit Fingernägeln die Augen ausgekratzt“) und verschweigt nicht, wie eng in jedem von uns „Gut“ und „Böse“ beieinanderliegen und jederzeit eins ins andere umschlagen kann.
Sein Buch ist von schmerzlicher Offenheit und Wahrhaftigkeit, ein Fotoalbum menschlicher Grausamkeiten von ungeheurer Tiefenschärfe des Sehens und Erinnerns. Keine ideologische Nebenabsicht trübt seinen Blick. Kusnezow klagt die Mörder aller Parteien an und entzieht keinem Opfer das Mitleid, nicht einmal den beiden jungen deutschen Soldaten, die tot im Grase liegen und über denen weinend eine russische Mutter zusammenbricht. Ja, er verfolgt seine eigenen Vorurteile bis an den Punkt, an dem er sich vorwirft, keine deutschen Schäferhunde zu mögen, obschon sie doch nichts für ihre Herrn können, die sie zum Beißen abgerichtet haben. Er erteilt uns eine Lektion in Menschlichkeit.
In diesem Buch ist kein Hass. Man zögert, es große Literatur zu nennen, weil es eine der bestialischsten Menschenschlachtungen des Zweiten Weltkriegs zum Gegenstand hat. Aber es ist mehr als ein Werk über ein entsetzliches Massaker, über den Krieg in Kiew, über den stalinistischen Terror. Es ist ein Lehrbuch der menschlichen Untaten. Es erzählt von Bücherverbrennungen, Plünderungen, Hunger, Denunziation, Verrat und rassistischem Mord.
Um all dies zu erleben, musste Kusnezow nicht einmal reisen; die Geschichte reiste zu ihm. Sein Schicksal war, dass er am Rande des Babij Jar aufwuchs, „Ohrenzeuge“ der Erschießungen wurde, zwei Jahre lang Tag für Tag das Rattern der Maschinengewehre aus der Mordschlucht hörte und er, um diese Schandtat dem Gedächtnis der Menschheit zu überliefern, zum Schriftsteller wurde, wofür er von Geburt geschaffen war.
Der Erdball rollte vier Jahre lang gleichsam unter seinen Füßen hindurch. Denn die Nazis, die zuerst von der Mehrzahl der Ukrainer als Befreier vom Stalinismus gefeiert wurden, überrannten, von Westen kommend, Kiew, lösten die Sowjet-Macht ab und fluteten drei Jahre später, ein zweites Massaker anrichtend, zurück, diesmal in panischer Flucht.
Es ist ein grandioses Werk, eine einzigartige Montage aus dem „Erziehungsroman“ eines Kindes, das den Krieg mit naiven Augen erlebt, einem historisches Dokument von fundamentaler Bedeutung („nichts ist erfunden, nichts weggelassen“), und eine philosophische Reflexion über die Niedrigkeit des Menschen. Ein Bericht von schmerzlicher Klarheit und minutiöser Erinnerungskraft. Man würde von großem Stil sprechen, wenn dieser Stil nicht der pure Herzschlag seines Autors wäre, den er umweglos aufs Papier gebracht hat. Kusnezow war im Jahre 1941, dem Jahr, in dem der Roman beginnt, gerade erst 11 Jahre alt. Er beschönigt nichts, weder den Stalinismus noch den Zarismus, dem sein Großvater in ungerechtfertigter Verklärung nachtrauert.
Er beschönigt nichts, nicht einmal sich selbst. Er spürt, weil er „in Großvaters Worten“ zu denken beginnt, plötzlich entfesselten antisemitischen Hass gegen seinen besten Freund Schurka Maza. Er gesteht es. Er würde, wenn er nur könnte, eine Gruppe von Plünderern erschießen, die ihm seine Diebesbeute geraubt hat. Er sagt es offen. Er hat die Kraft, nicht einen seiner Raubtierinstinkte zu unterschlagen und so viel Anstand, lieber über sich selbst als über die andern zu lachen. Er entwickelt dabei einen geradezu chaplinesken Humor, und die Szenen, in denen er die Plünderung der Stadt Kiew beschreibt, wobei er selbst zu den Dieben gehört, sind von unwiderstehlicher Komik. „Plündern ist verteufelt interessant, aber man muss es können“, heißt ein Kapitel, in dem er beim Plündern immer zu spät kommt. Er stürzt sich in ein Schuhgeschäft: „Ich sprang auf fremde Rücken, ich war außer mir darüber, dass die Leute mir alles vor der Nase wegschnappten, während ich nicht hinlangen konnte. Inzwischen war es so weit, dass man Schnürsenkel und Büchsen mit Schuhcreme einander aus den Händen riss“; zuletzt geht er, mit lächerlicher Beute und übersät von blauen Flecken, „gerädert und schwankend auf die Straße hinaus. Ich war dem Weinen nahe. Ich war niemals gierig gewesen, Großmutter hatte mich zu einem wohlerzogenen, höflichen Enkel erzogen. Und plötzlich war dieses Plündern über mich gekommen wie eine heiße Lawine. Ich konnte kaum atmen vor Habgier und Verzückung.“ Unterdessen hatten deutsche Soldaten sein Haus geplündert und Kartoffeln, Kohl und Tomaten mitgenommen. Philosophisches Fazit: „Es war das reinste Teufelswerk: die einen plündern dort, die andern plündern hier. Eine schöne Welt!“
Wie in einem Chaplin-Film ist der Held ein amoralischer Gauner, der alles tut, um sich in dieser Maschine namens Welt zu retten und nicht unter die Räder zu kommen. Der Humor hält Kusnezow am Leben. Sein Buch ist überhaupt nur erträglich wegen dieses unzerstörbaren Humors: „Der Meister schlug grimmig und fachmännisch zu. Mit der einen Hand hielt er mich an der Schulter fest, mit der anderen Faust schlug er mir abwechselnd zwischen die Rippen und den Nacken. Mein Kopf pendelte nur so hin und her.“ Wieder ein böser Slap-Stick wie in einem Stummfilm. Ja, dieselbe absurde Komik, dieselbe Kraft, die Geschehnisse, trotz schwindelerregender Nähe, aus der Distanz, als menschliche Komödie zu sehen, überträgt sich auf seine Prosa, in eine seiner zahlreichen philosophischen Resümées: „Die russischen Menschen wurden zu allen Zeiten geprügelt und gejagt, von den fremden und den eigenen Leuten: von den Tartaren und Türken, von Iwan Grosnyi, Peter und Nikolaij, von den Gendarmen und Bolschewiken. Das Ergebnis war eine nun schon historische Eingeschüchtertheit, so dass die gegenwärtige, nämlich deutsche Menschenjagd bereits ganz natürlich erschien. Im Gegenteil: Ein längeres Ausbleiben der Menschenjagd wäre vielen Leuten unwahrscheinlich und sogar verdächtig vorgekommen …“ Philosophischer Pessimismus und Sinn für die Komik der menschlichen Existenz schließen einander nicht aus.
Kusnezow betrachtet die Welt mit einem lachenden und einem weinenden Auge, als „Comédie Humaine“, als Mischung aus Tragödie und Farce. Seine Prosa ist von atemberaubender Wucht und Mühelosigkeit. Was immer er beschreibt, den Brand im Höhlenkloster, die Verwurstung eines Pferdes, den Angriff der sowjetischen Bomber auf Kiew: es ist von meisterlicher Klarheit. Immer findet er das richtige Bild, das treffende Wort. Das Leben selbst fließt durch die Feder Kusnezows.
In Kusnezows Familie haben sich alle politischen und weltanschaulichen Strömungen seiner Zeit versammelt. Sein Großvater hasste die Sowjetmacht und erwartete die Deutschen wie Erlöser, seine Großmutter war eine fromme, hilfsbereite Frau, deren Zimmer voll von Ikonen stand, der Mutter, einer Schullehrerin, hatte „die Revolution viel gegeben. Ohne die Revolution wäre sie Dienstmädchen oder Wäscherin geworden.“ Und der Vater, Wassilij Kusnezow, der sich früh von ihr geschieden hatte, „war ein ehrlicher Bolschewik. Solche Bolschewiken wie er wurden im Jahre 1937 ins Jenseits befördert, während sie noch in der Sterbeminute: es lebe Stalin! riefen.“
Der Vater hatte ihm von den Säuberungen in den dreißiger Jahren erzählt, als Stalin den Widerstand der Bauern gegen die Zwangskollektivierung brach. Sieben Millionen Menschen ließ Stalin verhungern, Churchill gegenüber rühmte er sich, dass es zehn Millionen gewesen seien. Kusnezows Vater hatte im Auftrag der Partei einmal eine ganze Familie erschossen, weil sie vor Hunger eine tote Tochter aufgegessen hatte.
Aber Kusnezow widersteht der Versuchung, das Leid der stalinistischen Opfer gegen das der Opfer Hitlers aufzuwiegen. Die Asche, von der Kusnezow nach seinen eigenen Worten zwei Kilo aus dem Babij Jar nach Hause trug („weil die Asche des Klaas, wie es im „Till Eulenspiegel“ heißt, „an mein Herz pocht“), Asche von Juden, Ukrainern, Zigeunern und Russen, war „internationale Asche“. Was hat der russische Bauer, der sein eigenes Kind verspeist, davon, dass in einem Viehwagen, der nach Auschwitz fährt, die Überlebenden die Toten essen? Aus der Sicht der Opfer ist das Vergleichen, das nicht mehr aus der Mode kommt, obszön. Das Leid der Opfer wiegt sich nicht auf, es addiert sich.
Kusnezows Buch bringt den Menschen auf seinen kleinsten bestialischen Nenner, der sich mit allen politischen Mordsystemen multiplizieren lässt. Er weicht der Frage, ob man eines dieser beiden Systeme schlimmer nennen könne als das andere, nicht aus. Er wagt nicht, sie zu entscheiden: „Zwischen den Sadismen beider Seiten gibt es keinen prinzipiellen Unterschied. Hitlers ,deutscher Humanismus‘ war erfindungsreicher und phantastischer, aber in den Gaswagen und Verbrennungsöfen kamen die Bürger fremder Nationen und besiegter Völker ums Leben. Stalins ,sozialistischer Humanismus‘ brachte es nicht zum Verbrennungsofen, dafür fiel er über die eigenen Bürger her. In solchen Abweichungen besteht der ganze Unterschied. Schwer zu sagen, was schlimmer ist.“ (Wir in Deutschland wissen natürlich besser, dass Hitler, bevor er über die fremden Völker herfiel, Hunderttausende von politischen und religiösen Widerständlern und Querköpfen im eigenen Land liquidierte, und wir vergessen nicht, dass die deutschen Juden, die Hitler ermordete, ebenfalls Deutsche waren.) Aber dann zitiert Kusnezow die Russen im Arbeitslager vom „Babij Jar“, die schon in den sowjetischen Gulags gesessen hatten: „Man kann das nicht vergleichen. Im Vergleich mit Babij Jar ist jedes sowjetische Lager ein Luftkurort.“
Wer Kusnezows Buch gelesen hat, wird schwerlich einen anderen Vergleich für Babij Jar finden als die Vernichtungslager Auschwitz, Majdanek, Treblinka. Denn im Gegensatz zum sowjetischen Gulag, in dem der Tod eine Folge der unmenschlichen Haftbedingungen war, war er im „Babij Jar“ das Ziel.
Die Bolschewiken haben Millionen verhungern, in Lagern und Gefängnissen verkommen und sterben lassen, zu Unrecht hingerichtet – aber die Idee, ein Volk, nein, wenn man die Zigeuner dazurechnet zwei Völker, bis zum letzten Menschenexemplar, dem letzten Erwachsenen, der letzten Greisin, dem neugeborenen Säugling auszulöschen und vom Erdboden verschwinden zu lassen, hatten die Nazis.
Die Spanier löschten die Inkas aus, weil es um ihr Gold ging, und die Inquisition verbrannte die Juden, wenn sie nicht zum Christentum übertraten, die Truppen Dschingis Khans rotteten auf ihren Raubzügen ganze Städte und Weltgegenden bis zum letzten menschlichen Lebewesen aus; aber in einem Punkt haben die Nazis der Barbarei die welthistorische Krone aufgesetzt: Sie brauchten keinen rationalen Grund um zu töten, und es gab kein Schlupfloch für die Opfer. Die Habgier konnte daran beteiligt sein, musste es aber nicht. Die Nazis töteten mit historisch unübertroffenem grenzenlosem Vernichtungswillen. Nichts kann den Naziterror übertreffen – man wird in Zukunft natürlich noch technisch perfekter, rationeller morden können, aber die Bereitschaft, die Welt systematisch von allem „Bösen“ zu reinigen, bis hin zum letzten „Untermenschen“, Juden, Zigeuner, ist als ideologischer Plan und Vorsatz nicht zu überbieten. Er ist der pure, Realpolitik gewordene Manichäismus, die restlose Vernichtung des angeblich Bösen durch das angeblich Gute, die Auslöschung des zur Ratte und Küchenschabe herabgewürdigten Menschen, sein Verschwinden aus dem Kosmos bis in alle Ewigkeit. Darum ragt Babij Jar so schreiend zum Himmel.
Zwei Jahre nach dem Einmarsch der deutschen Armee bricht das „Tausendjährige Reich“ zusammen. Der Totentanz geht seinem Ende entgegen, der Erdball dreht sich zurück, die Geschichte rollt wieder auf Kusnezow zu. Die Deutschen laufen in die umgekehrte Richtung, in den einst martialischen Gesichtern steht die Angst, und so wie sie einst versucht hatten, das letzte Exemplar eines Zigeuners oder Juden auszulöschen, sind sie jetzt von der Idee besessen, die physischen Beweisstücke ihrer Untaten zu beseitigen.
„Die Leichen vernichten“, lautete der Auftrag an Blobel, der auch die Massenerschießungen geleitet hatte: und dann die Gefangenen töten, die die Leichen verbrannt hatten und sie auf den von ihnen selbst errichteten Scheiterhaufen anzünden und die Asche der Verbrannten in alle Winde verstreuen. Die Nazis wollten den perfekten Massenmord begehen und, nachdem sie Millionen von Menschen getötet hatten, sie spurlos verschwinden und in Rauch aufgehen lassen. Kein einziger Überlebender sollte zu einer Zeugenaussage fähig sein, kein Sherlock Holmes die geringste Spur finden. Die Mörder würden schon um ihrer eigenen Haut willen schweigen oder lügen.
Die Organisation der Gefangenen, die man „Figuren“ nannte, um sie nicht Menschen zu nennen, in „Hakenmänner“, „Goldsucher“, „Garderobenmänner“, „Heizer“, „Feststampfer“, „Gemüsegärtner“, also in solche, die die Leichen an Haken aus der Grube zogen, andere, die ihnen die Goldzähne herausbrachen, andere, die sie auszogen – die KZ-Wächter tauschten ihre Kleider auf dem Markt gegen Schnaps –, in solche, die sie verbrannten und andere, die ihre Asche verstreuten, wird bei Kusnezow ausführlich beschrieben. (Vielleicht ist das wirklich Einzigartige am deutschen Faschismus diese Verschränkung von Wahnsinn in der Idee und Rationalismus in der Exekution.) Jene Seiten, auf denen er erzählt, wie die Gefangenen mit Eisenstangen erschlagen, die Mädchen aus einem Kiewer Nachtklub lebendig ins Feuer geworfen werden, wie der deutsche Schäferhund Rex die Geschlechtsteile der Internierten zerreißt und die deutschen Soldaten bei all dem zusehen und ihre Zigaretten rauchen, verdienen es wohl, ein „Inferno“ genannt zu werden, nur dass es von Menschen statt vom Satan organisiert wurde und die haarsträubenden Seiten Dantes an Schrecken weit überragt.
Aber es waren der Toten zu viele, und nur ein Teil der Leichen wurde während des Rückzugs der deutschen Armee verbrannt, mehrere Gefangene entkamen den deutschen Mördern. Eine Frau, die Zeugin Dina M. Pronitschewa, hatte das Massaker an den Juden Kiews vom 29. und 30. September 1941 überlebt und sich aus dem Massengrab gerettet. Die Häftlinge, die am zweiten Jahrestag des Massakers hingerichtet werden sollten, versuchten in der Nacht zum 30. September 1943 einen Ausbruch; 311 der Fliehenden wurden getötet, vierzehn erreichten Anfang November die Reihen der Roten Armee. Zwei von ihnen, Vladimir Davidov und David Budnik, berichteten der Welt als Zeugen in Nürnberg 1946 über Babij Jar.
Die Nazis haben versucht, eine totalitäre frontale Attacke gegen die Erinnerung in der Geschichte zu führen, aber im Weltall geht keine Energie verloren, und in der Geschichte bleibt immer eine Spur Erinnerung zurück. Irgendwo überlebt ein letzter Mohikaner, um zu berichten. Die Türken haben bei ihrem versuchten Völkermord gegen die Armenier geplant, nicht nur ein Volk, sondern seine Steine zu vernichten; denn die Steine könnten sprechen. Vergeblich! Kusnezow: „Nicht ein einziges gesellschaftliches Verbrechen kann geheim bleiben. Es retten sich fünfzehn Leute, zwei Leute, ein Mann, die Zeugnis ablegen. Man kann alles verbrennen, in den Wind streuen, zuschütten, niedertrampeln, aber es bleibt das menschliche Gedächtnis. Die Geschichte lässt sich nicht beschummeln. Und man kann nichts vor ihr verbergen.“
Ich habe lange die Fotos der vier Angeklagten im Prozess über den Völkermord in Uganda betrachtet, der in diesen Tagen in Brüssel verhandelt wird. Ich kann nichts Viehisches an ihnen entdecken. Die beiden katholischen Schwestern, die das Benzin geliefert, ja selbst mit Hand angelegt haben sollen, als man Hunderte von Tutsis verbrannte, sehen „ganz normal“ aus, die eine mild, die andere etwas strenger; und von dem Universitätsprofessor, der jene berüchtigten „10 Gebote“ der Hutus verfasst haben soll, die zur Grundlage des Völkermords wurden, heißt es, er sei so sympathisch und habe so viele Fürsprecher gefunden, dass die Opfer fürchteten, das Gericht werde an seine Schuld nicht glauben.
Nicht anders war es in Nürnberg. Hier saßen, unter der Anklage, „Eine Million Menschen“ ermordet zu haben, 23 Männer vor Gericht. Von Mordszenen wurde berichtet, dass man, einem Richter zufolge, „vor ihrem Anblick zurückwich wie vor einem Strahl brühenden Dampfes“; aber die Angeklagten zitierten reihenweise Zeugen herbei, die sie als „ehrlich“, „wahrheitsliebend“, „rechtdenkend“, „freundlich“ schilderten, als zutiefst aufrichtige, anständige Menschen – also als genauen Gegensatz zu jenen selben, die sich in Polen und Russland in einen sadistischen Rausch hineingesteigert und Bäuche aufgeschlitzt, alte Männer in den Staub getreten, Frauen vergewaltigt, Kinder gegen die Wände geschmettert hatten. Und das weibliche Publikum war von dem blassen, sich sehr gut ausdrückenden Einsatzgruppenführer Ohlendorf fasziniert, der auf die Frage, ob ihm der Befehl, die gesamte jüdische Bevölkerung Südrusslands, einschließlich der Kinder, zu ermorden, keine Bedenken verursacht habe, antwortete: „Selbstverständlich“.
Warum er ihn trotzdem ausgeführt habe?
„Weil es mir undenkbar erscheint, dass ein untergeordneter Führer Befehle, die die Staatsordnung gibt, nicht ausführt.“
„Wurde den Leuten die Rechtmäßigkeit dieser Befehle vorgetäuscht?“
„Ich verstehe Ihre Frage nicht. Denn der Befehl war von den Vorgesetzten gegeben, so dass die Frage der Rechtmäßigkeit gar nicht kommen konnte.“
Paul Blobel erinnerte in Nürnberg ausdrücklich daran, dass Himmler im Spätsommer 1941 in Nikolajew die Führer und Männer der Einsatzkommandos antreten ließ und den ihnen gegebenen Liquidationsbefehl mit dem Hinweis wiederholte, dass Führer und Männer, die an der Liquidation beteiligt seien, keinerlei persönliche und eigene Verantwortung für die Durchführung dieses Befehls trugen. Die Verantwortung trüge allein er mit dem Führer. Diese simple Strategie der Verantwortungsübernahme erleichterte ihren Anhängern und Untergebenen, die ohnehin sklavisch gehorsam waren, den Entleerungsvorgang des menschlichen Ich und aller ihm angelernten Gebote. Es bildete sich eine Art Hohlraum, offen für jeden Befehl. Der Uniformierte war das eine, das andere war der Privatmensch; der eine war höflich, der andere monströs; der eine war der, der sein Maschinengewehr gnadenlos auf tausende von nackten Frauen und Männern richtete, der andere war der, der uns so freundlich aus dem Foto entgegenblickt. Der Soldat war der Behälter für die Befehle, das Individuum hat gelitten und sich allnächtlich besoffen. Aber die Rollen waren ungleich verteilt; das Individuelle war nur ein Wurmfortsatz, wie der Blinddarm, und konnte jederzeit herausoperiert werden.
Und jetzt, am Ende des Krieges, warfen sie jene Puppe namens Soldat, Obersturmbannführer, SS-Mann, Uniformträger wieder weg und wollten für nichts verantwortlich gewesen sein. Ihre Verteidiger erfanden das Wort von der „Doppelnatur“ des Menschen. Aber es war nun einmal derselbe erbärmliche Mensch, auch wenn er die Bestie, wie ein Flaschenteufelchen, wieder eingepackt hatte und sagte, er sei jetzt Zivilist.
Der Anwalt von Paul Blobel sagte in seinem Schlussplädoyer, sein Mandant habe Aufgaben „rein verwaltungstechnischer Art“ gehabt. Eine davon war die Leitung von Exekutionen. Für all diese Massenmörder, für all diese Vollakademiker mit Doktorgraden war Töten pure Pflichterfüllung. Die Angeklagten insistierten darauf, dass sie nicht aus persönlicher Niedertracht, sondern nur aus „Pflichtschuldigkeit“ getötet hätten. Ein Angeklagter gestand sogar, er habe mit einer jüdischen Frau gelebt. „Die Gegner wurden als Ungeziefer betrachtet, aber nicht auf dem Weg des persönlichen Ressentiments, sondern durch das Urteil der Wissenschaft.“
Zu den bemerkenswerten Seiten des Nürnberger Prozesses gehörte, dass die Schilderung der Greueltaten ständig mit den akademischen Titeln der Täter durchsetzt war, die sie begangen hatten. Die Angeklagten waren fast durchweg gebildete Menschen, Ministerialbeamte, Rechtsanwälte, Architekten, sogar ein protestantischer Geistlicher und ein Opernsänger waren darunter. „Je zivilisierter der Mensch, umso stärker sind seine sadistischen Tendenzen“, schreibt Hanspeter Born, Rossis Buch „Geheimagent Stalins“ zitierend. Und Johann Siebert, einer der Kommandanten des Ghettos von Riga, soll den berühmten jüdischen Historiker Dubnow, bei dem er in Heidelberg studiert hatte, im Ghetto aufgesucht und lachend gesagt haben: „In meiner Jugend war ich so dumm, Ihre Vorlesungen zu besuchen. Was für einen Unsinn haben Sie uns doch vorerzählt! Sie wollten, dass wir weich werden und an den Triumph des Humanismus zu glauben beginnen. Lachhaft!“ Johann Siebert versagte sich nicht das Vergnügen, bei der Ermordung Dubnows persönlich anwesend zu sein.
Das ist vielleicht eine der schlimmsten Desillusionierungen des 20. Jahrhunderts: die zerbrochene Hoffnung, dass der zivilisierte, „aufgeklärte“ Mensch widerstandsfähiger gegen die Barbarei sei als der ungebildete. Der Genozid hat uns gelehrt, dass die Instinkte, die aus uns herausbrechen, stärker sind als alle moralischen Sätze, die uns als Kinder eingetrichtert wurden. Die jahrhundertealte Hoffnung brach zusammen, dass man den Menschen zu einem besseren Wesen erziehen könne.
Die Sprache der Mörder war von unglaublicher Eintönigkeit. Sie hatte keinen individuellen Klang. Sie war völlig linear, administrativ, austauschbar. In den Aussagen Blobels findet sich keine Spur von Mitleid mit den Opfern. Von ihnen sprechend, schleicht sich Verachtung in die Sätze des SS-Standartenführers: „Sie haben sich in ihr Schicksal gefügt. Und das ist das Eigentümliche dieser Menschen da im Osten“, oder: „Sie erkannten ihren inneren Wert nicht.“ Die Einsatzleute wurden nicht müde, in Nürnberg „die ungeheuren seelischen und gesundheitlichen Schäden“ für die Exekutoren zu beschwören, die nachts in Schreikrämpfe verfielen, über Kopfschmerzen klagten, depressiv wurden: „ja, also unsere Schützen, die mussten betreut werden … Ich muss sagen, dass unsere Männer, die daran teilgenommen haben, mehr mit ihren Nerven runter waren als diejenigen, die dort erschossen werden mussten.“
Die Mörder leiden, die Opfer nicht. Die Begriffe stehen Kopf. Das ist aber keine „Frechheit“, wie Richter Dixon meinte, es ist viel schlimmer: Blobel meinte das wirklich. Er war nach wie vor unfähig, in den Opfern Menschen zu sehen, und diese Gefühlskälte ist erschreckender als die Grausamkeit, obschon sie jederzeit in Grausamkeit umschlagen kann. Die Verhöre von Nürnberg lassen einem in jedem Satz die Haare zu Berge stehen, nicht nur wegen der unsagbaren Leiden der Opfer, sondern wegen des immer gleichen indifferenten Sprachduktus, mit dem der „grundsätzliche Befehl zur restlosen Beseitigung des Judentums“ kommentiert und justifiziert wurde.
Man möchte mit dem Brecheisen in diese Sprache eindringen, um ihr verborgenes Wesen zu verstehen; das, was drinsteckt von denen, die sie verwenden; das sind doch Menschen, die diese Sprache sprechen; das ist doch deutsch! Dieses selbstbewusste, mit harten Konsonanten und militärischen Reizworten strukturierte Deutsch? (Dieses Hitler-Deutsch, das selbst nur ein angelerntes Militär- und Bürokratendeutsch und abgeschriebenes Antisemitendeutsch war). Aber man sieht hinein und findet nichts. Die menschliche Sprache hat Schwingungen, diese nicht. Diese Sprache gleicht einem Elektrokardiogramm, wenn das Herz aufgehört hat zu schlagen.
Aber die Sprache der Mörder war nicht nur phantasieloser und kälter als die Sprache der Opfer, sie war auch tausendmal mächtiger. Die Nazis haben eine Räubersprache zum Aufspießen von Menschen erfunden, die nichts mit dem Deutsch ihrer Dichter und Denker zu tun hatte, eine Räubersprache im bürokratischen Gewand. Sie war bald verlogen und kleidete die Mordabsichten in Verwaltungsformeln („Endlösung“, „Sonderbehandlung“, „Umsiedlung“) ein, bald war sie offen zynisch (im „Babij Jar“ hieß ein MG-Massaker „Konzert“ oder „Laienkunstabend“), bald brutal. Ob man nun die Tagesbefehle der Generäle liest, die Anschläge an den Häuserwänden, die Aussagen im Nürnberger Prozess, immer schlägt uns dieses hermetische eisige Deutsch entgegen: „Das jüdisch-bolschewistische System muss ein- für allemal ausgerottet werden … Der deutsche Soldat hat daher nicht allein die Aufgabe, die militärischen Machtmittel dieses Systems zu zerschlagen. Er tritt auch als Träger einer völkischen Idee und Rächer für alle Grausamkeiten, die ihm und dem deutschen Volk zugefügt wurden, auf. Für die Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors, muss der Soldat Verständnis aufbringen.“ (Generalfeldmarschall Erich von Manstein, Befehl vom 20. November 1941)
In ihren Erinnerungen und Zeugnissen stellen sich die Opfer immer in ihrer Schändlichkeit dar, die Mörder vergöttern sich; die ersten schildern Verbrechen, die sie aneinander begingen, die zweiten besingen selbstlose „Heldentaten“: „Wir müssen hart mit uns sein, um für unsere Nachkommen ein schöneres und ewiges Deutschland zu bauen. Wöchentlich drei bis vier Aktionen, und ein andermal Juden, Partisanen und sonstiges Gesindel“(Brief eines Wehrmachtangehörigen aus dem Osten nach Hause).
Man wird ohnmächtig vor dieser Sprache. Die Wahrheit in ihr ist angefault wie ein Apfel, den der Wurm frisst, aber sie kommt gleichsam gesund und in Stiefeln daher, markig, kräftig, unwiderleglich. Kein Zögern, kein Zweifel ist in dieser im Stechschritt vormarschierenden Sprache. Diese Sprache ist stärker als unsere Widerlegung. Sie appelliert an einflussreichere Instinkte.
Kein Bericht eines Opfers gleicht dem andern. Jedes Herz hat einen anderen Gesang. Kein Leben gleicht einem andern; es steht riesengroß und allein im Universum. Die Sprache der Opfer und der Mörder haben nichts miteinander gemein. Es kommt einem vor, als ob sie nicht vom selben Geschehen erzählen. Der Krieg aus der Perspektive der Opfer und der Mörder, das sind zwei Kriege. Die Mörder im Babij Jar haben die Lebenden wie Sprotten auf die Toten geschichtet, um sie nach der Exekution nicht mehr wegtragen zu müssen, sie traten sie mit Füßen, prügelten sie mit Stöcken und Schlagringen, haben sie in Zehnergruppen ermordet, mit dem Maschinengewehr, 33.771 in zwei Tagen war ihre stolze Bilanz. Es war ihnen gar nicht aufgegangen, dass sie vor lauter kostbaren, in alle Ewigkeit unwiederholbaren Menschen standen, vor leidenschaftlichen jungen Denkern, vor Verliebten, vor zutiefst ergebenen und frommen Leuten, vor Revolutionären, vor Atheisten, vor Kinderreichen und Sterilen, vor Depressiven und solchen, die vor Lebensfreude überflossen, vor einem Schreiner, einem Bankier, einem Lehrling, einem Philanthropen, einem Gauner, einem Stotterer, einer guten und einer schlechten Schülerin, einer Kurzsichtigen, einem armen Alten, lauter Einzelne, die sich in allem unterschieden und nur eins gemein hatten: dass sie Juden waren (aber dann kamen die Zigeuner dran, die stammweise hingerichtet wurden, die Politoffiziere, die Matrosen der Flotte, Tausende von sogenannten Geiseln …) Die Mörder sahen nur die nackten Frauen, die versuchten, auf die Grube zulaufend, ihre Brüste mit den Händen zu bedecken und Berge von nackten Toten, die wie geschlachtete Kälber übereinander lagen.
Kusnezow hat einem Teil dieser Toten das Leben wiedergegeben und sie in unsere Erinnerung zurückgebracht. Er hat sie aus der Grube gezogen und ihnen ihre Namen zurückerstattet und uns daran erinnert, dass es Menschen waren und kein Schlachtvieh für entfesselte Faschisten. Er hat die Geschichte zurückgedreht und hunderte von Juden, Ukrainern, Russen aus dem Sumpf des Vergessens gerettet; er hat die überlebenden Zeugen befragt, damit nicht eine Einzelheit der Verbrechen unterschlagen und unter den Richterstuhl der Geschichte gefegt werde.
Die Kunst leistet Widerstand gegen das Vergessen, und so wie Jewtuschenko 1961 geschrieben hat: „Kein Denkmal steht im Babij Jar“, um mit seinem Gedicht ein für immer unzerstörbares Denkmal zu setzen, hat Kusnezow jenes schöne, von 800.000 Menschen bewohnte Kiew wiederauferstehen lassen, das von den Sowjets und den Nazis in Schutt und Asche gelegt worden war. Mehr kann Kunst nicht leisten; wenn sie den Menschen schon nicht bessern kann, so erinnert sie ihn wenigstens an seine Schandtaten.
Kusnezow sagte sich, dass „die humanen und klugen Menschen, die nach uns leben werden, Schwierigkeiten haben werden zu begreifen, wie der Gedanke eines Mordes, eines Massenmordes in uns aufkeimen konnte. Ein normales menschliches Wesen begreift, dass nicht nur es allein, sondern auch alle andern Wesen fürs Leben gern leben möchten.“ Aber diese humanen und klugen Menschen, von denen Kusnezow träumt, die gibt es nicht; sie werden, wie in jeder Generation, in der Minderheit bleiben. Sie werden keinen Einfluss auf die Geschichte nehmen, obschon auch sie von einer „Erde unter dem Himmel“ träumen, die „nicht jüdisch, nicht arisch, nicht zigeunerisch ist, sondern einfach den Menschen gehört. Aber, mein Gott, vielleicht gibt es gar keine Menschen auf der Welt, oder es gibt sie irgendwo, aber ich weiß nicht wo.“

* – Nachwort zu „Babij Jar“ von Anatoli Kusnezow.. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Anatolij Kusnezow: Babij Jar. Die Schlucht des Leids , Roman-Dokument, Matthes & Seitz, Berlin 2001, 480 Seiten, 24,80 Euro