14. Jahrgang | Nummer 12 | 13. Juni 2011

200 Jahre Turnplatz Hasenheide – ein deutsches Jubiläum?

von Wolfhard Frost

Beim Turnfest 1968 in West-Berlin spöttelte die aufmüpfige Turnerjugend im Festumzug des Deutschen Turnerbundes per Text und Karikatur über aller Turner Übervater, den „Turndaddy“ Jahn. In jener Zeit ordnete sich eine dergestalt despektierliche Sicht auf die Tradition in den allgemeinen Trend ein: Man lehnte sich offen gegen die Allmacht der Alten und ihre Verknöchertheit auf und fühlte recht rebellisch dabei – war´s ja auch anteilig.Und in der Tat passte denn das über 150 Jahre geformte Bild des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) als eines der Heroen deutschen Einheitsstrebens noch in die Zeit – das Bild jenes Mannes, der in seiner „Schwanenrede“, seinem politischen Abgesang, von sich selbst gesagt hatte: „…daß ich die höchstgefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands zuerst aufgebracht“ habe? Und: „…Deutschlands Einheit. Ja, für diesen Hochgedanken habe ich gelebt und gestrebt, gestritten und gelitten“. Dieses Selbsturteil ist korrekt, und für zwei seiner Leistungen gebührt ihm Anerkennung ohne allen Abstrich.
Das ist zum einen das jegliche Normen damaliger gesellschaftlicher Konventionen umwälzende „deutsche“ Turnen auf dem öffentlichen Turnplatz, diese von allen Normierungen unabhängige freiwillige Gemeinsamkeit über alle Klassenschranken hinweg. Am 11. Juni 1811 wurde der erste öffentliche Turnplatz in deutschen Landen auf der Hasenheide bei Berlin von Jahn eröffnet, wo sich alsbald hunderte junger Leute aus allen Ständen zu körperlichen Übungen zusammenfanden. Schockierend wirkten auf viele der zahlreichen Zuschauer anfangs die dort zu beobachtenden Gebräuche – die bald einheitliche schlichte Kleidung aus grauem groben Leinen, Wasser und Brot als einziges Nahrungsmittel an den Turnnachmittagen, das brüderliche Du. Volkstümliche Erziehung, wahrhaftig. Jahns oft rauer Ton brachte ihm bald den Spottnamen „Polterer“ und schlimmere Kennzeichnungen ein. Die Jugend indes verehrte ihn.
Und die andere Leistung in Jahns Lebenswerk, weit weniger bekannt, ist sein Wirken für die Pflege der deutschen Sprache, alsbald auch verbunden mit dem politischen Bekenntnis zur deutschen Einheit. Eine Frühschrift von Jahn ist nicht zufällig die „Bereicherung des hochdeutschen Sprachschatzes versucht im Gebiete der Sinnverwandtschaft“ (1806). Sein politisches Hauptwerk indes, das bewusst „Deutsches Volksthum“ als Titel trägt, ordnet sich in dieser bewegten Zeit (1810) erfolgreich in die Reihe der Nationalerziehungspläne ein, die in jener Periode nationaler Besinnung einem vielfachen Bedürfnis des Bürgertums entsprachen. Die Niederlagen von 1806 förderten solches Denken, je stärker die französische Besatzung Preußens und Deutschlands als Bedrückung empfunden wurde. Jahn war gerade an den deutschen Universitäten durch sein „Volksthum“ weithin bekannt. Er war auch einer der Initiatoren des geheimen „Deutschen Bundes“ (November 1810), der auf die Befreiung Deutschlands vom napoleonischen Joch zielte, wie man aus der Gründungsurkunde entnehmen kann: „…Erhaltung des deutschen Volkes in seiner Ursprünglichkeit und Selbständigkeit, Neubelebung der Deutschheit… wider alle Knechtschaft von außen.“ Im gleichen Sinne ist die „Ordnung und Einrichtung der Burschenschaften“ (1812) angelegt, mit welcher Jahn gemeinsam mit seinem Freund Karl Friedrich Friesen gegen die grenzenlose Zersplitterung des deutschen Studentenwesens anging und für eine einheitliche, auf den Gedanken einer einigen deutschen Nation gerichtete Studentenorganisation wirkte.
Prominente Politiker und Militärs, so der preußische Staatskanzler Fürst Hardenberg, nutzten die konspirativen Aktivitäten des Deutschen Bundes und insbesondere die ruhelosen Wanderungen und Reisen ihres wichtigsten Emissärs Jahn zu den Zellen des Bundes in ganz Deutschland, um vorzubereiten, was endlich, Ende 1812, genügend Druck auf den entschlussschwachen preußischen König Friedrich Wilhelm III. auszuüben vermochte, so dass er den geforderten Aufruf „An mein Volk“ (17.März 1813) wagte, durch den der Konflikt mit Napoleon in den Befreiungskrieg mündete. Auch wo Jahn nicht in persona wirkte, wie zum Beispiel an der Universität Halle, sein Ruf als Agitator für die Befreiung Deutschlands von fremdländischer Bedrückung bewirkte dort, dass von den 342 Studenten der gerade erst wiedereröffneten Hochschule 243 ins Feld zogen, aus einer Stadt also, die 1807 zum Königreich Westfalen gefallen war, das von Jérôme, dem Bruder Napoleons, regiert wurde. Sie gingen zumeist als Freiwillige zu den Lützowern, für die auch wieder Jahn der erfolgreiche Werber – und im Feldzug selbst Kommandeur des 3. Bataillons gewesen war.
Nach dem Kriege, seit 1814 wieder in Berlin, wurde Jahn umso mehr zur Symbolfigur deutschen Einheitsstrebens, wie es gerade auf den nicht nur in Preußen rasch aufblühenden Turnplätzen und ebenso in den endlich entstehenden burschenschaftlichen Verbindungen immer lauter gefordert wurde. Als er von Januar bis April 1817 in Berlin die Erlaubnis zu einer Vortragsreihe über „Deutsches Volksthum“ erhielt, strömten ihm 500 Zuhörer zu. Der Staatskanzler Hardenberg, der sonst oft seine schützende Hand über Jahn gehalten hatte, entzog ihm dann aber doch die Genehmigung zu weiteren öffentlichen Vorträgen. Jahn wurde allmählich unliebsam – zu deutlich war seine Kritik an der politischen Stagnation herauszuhören, die in Preußen wie im gesamten Deutschen Bund Metternichscher Prägung nach dem Sieg über Napoleon statt der erhofften nationalen Einigung wieder eingekehrt war.
Aber welche Symbolkraft lag allein in der Wahl des Datums, als die Universität Kiel mit dem 30. Oktober 1817 – praktisch auf den Tag 300 Jahre nach Luthers Wittenberger Thesenanschlag – dem „hochberühmten und sehr gelehrten Herrn Friedrich Ludwig Jahn, der in Berlin von Staatswegen in weiser Fürsorge zum Professor der Turnkunst… ernannt ist, der wegen seiner reichen und gewaltigen Beredsamkeit mit keinem mehr, als mit Luther zu vergleichen ist“ die Würde des Ehrendoktors der Philosophie verlieh. Und zur gleichen Zeit geschah die gleiche Ehrung durch die Universität Jena diesem Manne, „welcher selbst in den schlimmsten Zeiten am Vaterlande nicht verzweifelte und mit erstaunlichem Eifer durch Wort, Schrift und That die Herzen der tüchtigsten Jünglinge in ganz Deutschland erweckt…hat.“
Liest man solche Wertungen heute, so drängt sich die Frage auf, wie viel Gültigkeit sie damals hatten – und in unseren Tagen noch haben. Jahn selbst wurde gerade auf dem Höhepunkt seiner öffentlichen Wirkung 1817 so heftig angegriffen und schließlich verfolgt, dass es sich rechtfertigt zu sagen, es war hier auch der Endpunkt seiner positiven politischen Wirksamkeit erreicht. Verhaftung, Verbannung, familiäre Katastrophe, Verbot allen öffentlichen Tätigseins prägten fortan sein Leben in den Jahren der Turnsperre, der Karlsbader Beschlüsse (1819). Erst Friedrich Wilhelm IV. hob 1840 die Restriktionen gegen Jahn auf, doch die Zeit war über ihn hinweggegangen. Noch war er im Gedächtnis der Älteren der „Turnvater“, aber als er 1848 vom Merseburger Wahlkreis zum Abgeordneten der Nationalversammlung gewählt worden war, gehörte er in Frankfurt zur politischen Rechten – zur maßlosen Enttäuschung der meist republikanisch gesinnten Turner. Schon die zeitgenössischen Karikaturen konnten bissiger nicht sein, die Jahn in seiner Frankfurter Zeit deswegen bloß stellten. Das Jahn-Museum in Freyburg an der Unstrut zeigt, in sachlicher Art, auch diese, tragische, Seite im Bild einer historischen Persönlichkeit, die Jahn doch ist.
Ist er´s? Wer ist berufen zum endgültigen Urteil? Bis heute reicht der Streit um diesen Mann. So in Gestalt der in jüngerer Zeit wieder aufgekommenen Meinungen über antisemitische Tendenzen bei Jahn. Man kann hierüber nicht mehr den achtzehnjährigen Schüler Salomon befragen, den Sohn eines Berliner Rabbiners, der auf der Liste der aktiven Teilnehmer am Winterturnen 1817/18 steht. Und auch Dr. Salomon Friedrich Striebel aus Frankfurt am Main kann nicht mehr selbst Zeugnis ablegen, Feldwebel bei den Lützowern und mit Jahn Teilnehmer an den Feldzügen 1813/14 – bei dem Jahn später, 1848, in medizinischer Behandlung war. Jahn ein Antisemit? Auf wohl keinen mehr als auf ihn scheint seither das Schiller-Wort zugeschnitten: „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt / Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“. Wird Deutschland einem Manne in diesen Tagen die Ehre geben, die ihm gebührt, einem Manne, den man erkennen und achten kann in seiner Größe – und in seinen Grenzen? Bleibt zu hoffen, dass das Jahn-Denkmal in der Hasenheide nach seiner und seines Umfeldes Erneuerung nicht wieder zur Drehscheibe des Handels mit üblen Substanzen wird, wie es der Beobachter aus dem Osten in den neunziger Jahren voller Erschrecken zu Gesicht bekam. Hehre Gefühle konnten sich bei diesem Anblick nicht recht einstellen. Da hatte Jahn der Jugend schon vor 200 Jahren Besseres zu bieten gehabt.