14. Jahrgang | Nummer 23 | 14. November 2011

Berliner Schmerzensmann: Der Dichter Thomas Brasch

von Reinhard Wengierek

Ein Mann vor wackliger Handkamera: Nackt; noch festes Fleisch. Scharfe Nase, Stirnglatze. Unter buschigen Brauen ein bohrender Blick: himmelweit aufgerissene Augen voll Wut, Schrecken, Bitternis. Zwischen nervösen Lippen die ewige Marlboro. So schaut er aus, ein deutscher Dichter, Anfang 50, ohne Hemd und Hose. „Tja, ist nicht mehr wie früher“, grinst Thomas Brasch. Und weiß: Diese Entblößung muss ins Filmporträt von Christoph Rüter. Der Brasch-Freund drehte es in dessen letzter Wohnung Berlin Schiffbauerdamm mit Blick auf Spree, Berliner Ensemble, Brecht-Denkmal. Das war Mitte der 1990er Jahre, wenige Jahre vor Thomas‘ Tod am 3. November 2001. Jetzt, ein Jahrzehnt später, kommt „Brasch. Das Wünschen und das Fürchten“ ins Kino.
Die Nacktszene, komisch und todernst zugleich, hakt sonderlich im Gedächtnis. Als Sinnbild eines Künstlertums, das sich reibt an Wirklichkeiten, die nicht so sind und verdammt auch nicht so werden wollen wie in den wunderschönen Träumen. Für Brasch die Folter seines Lebens. Der er sich tapfer entgegen stellte. Geschützt allein von Poesie. Dieser Nackte – ein Schmerzensmann. Sein Kreuz, das er brauchte für die Kunst und das er hasste, hieß Dissidententum: „Die Staatsfeindpose bringt so ein Priestertum mit sich; auch Opposition kann Opportunismus sein“.
„Niks. Hab niks zu verliern./ n Pferd springt durchde Wand,/ wenns ausm Stall will.“ – Eine von Thomas Braschs ersten Veröffentlichungen: Lyrik, mit dreißig, nach NVA-Kadettenschule Naumburg, Journalistikstudium (Leipzig, im zweiten Semester rausgeschmissen), nach Filmstudium (Babelsberg), Knast (Flugblätter gegen 68-Prag, „staatsfeindliche Hetze“) und nach Verbannung „in die Produktion“. Davon erlöste ihn BE-Chefin Helene Weigel, verschaffte ihm einen Job im Brecht-Archiv. Das war 1971, vier Jahre später dann die genannt erste und zugleich letzte Veröffentlichung: In Nr.89 von „Poesiealbum“, galt als Geheimtipp. Schon auf dem Umschlag die surreale Grafik von Einar Schleef! Kerl mit aufgerissener Jeansjacke, aus der die Eingeweide quellen.
Auf dem letzten Blatt des 32-Seiten-Heftchens die ätzende Frage „Wie viele sind wir eigentlich noch“. Dazu der Aufschrei wie ein Schlachtruf: „Jetzt trägt er Anzug und Krawatte./ Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.“ – Braschs prophetischer Antrag zur Ausreise aus allen seinen Ländern, Bindungen, Lebensumständen. Da lag der erste Roman „Vor den Vätern sterben die Söhne“ längst fertig im Schubfach, die DDR-Zensur winkte ab. Deshalb das Jahr darauf zusammen mit Katharina Thalbach (Schauspielerin, Regisseurin) die „einmalige Ausreise in die BRD“. Im Westen dann kometenhafter, vom Großfeuilleton bejubelter Aufstieg in den Literaturhimmel, in die Theater- und Filmszene („Engel aus Eisen“).
Doch Brasch konnte in keinem Himmel, in keiner Szene heimisch werden. Das Kind jüdischer Kommunisten, geboren 1945 im englischen Exil der Eltern (Papa wurde DDR-führender Genosse), blieb lebenslang ein elend Getriebener. Weggefährte Klaus Pohl, Schauspieler und Dramatiker, machte ihn zur Hauptfigur eines 500-Seiten-Romans, dem Buch, das Brasch immerzu im Kopf tobte, doch das zu schreiben er außerstande war. „Die Kinder der preußischen Wüste“ ist soeben erschienen bei Arche Hamburg.
„Wo ich bin will ich nicht bleiben, aber/ die ich liebe will ich nicht verlassen, aber/ die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber/ wo ich lebe da will ich nicht sterben, aber/ wo ich sterbe da will ich nicht hin:/ Bleiben will ich wo ich nie gewesen bin.“ – Aber, aber, aber: Brasch war ein einziges Aber. Das machte ihn fertig; das machte ihn zum Dichter. Da springt jede Silbe uns an die Gurgel, haut jeder Reim uns um. Dagegen verblassen seine Dramen „Lieber Georg“ (über den expressionistischen Verzweiflungsdichter Georg Heym), „Rotter“ (ein neuer deutsch-deutscher Faust) oder “Mercedes” (eine hoch gestochene Sozialschmonzette über ein unglücklich Paar voller Trieb und Traum). Das sind starke poetische Reflexionen; doch eher Kopfgeburten als starke Stücke; dramaturgisch vertrackt, philosophisch verblasen. Sie versinken sachte im Vergessen.
Zur epochalen Figur erwuchs Thomas Brasch als rasend akribischer Übersetzer Shakespares und auch Tschechows – jenseits allen Filmens, aller Stückwerke und Romanschreiberei. Viele tausend Seiten davon liegen ungedruckt im Archiv, das er der Akademie der Künste vermachte. Als Lebensunterhalt fürs Finale in Berlin. Brasch sarkastisch: „Erst O-Berlin, dann W-Berlin, zuletzt OWeh-Berlin.“ Dort rang er unter zerfressender Selbstkritik (über die er sich mit Drogen hinweghalf) mit dem Schreiben. Vier Jahre lang, in seiner „Endstation“ am Schiffbauerdamm; der Luxus-Höhle für 2700 DM Monatsmiete überm Edelrestaurant „Ganymed“, seiner kostspieligen Tankstation.
Der Schädel Shakespeares als Braschs letztes, rettendes, lebensverlängerndes Asyl: Zauberisch beseelt oder drastisch kriegerisch, mit kaltem Blick und Herzenszartheit vergegenwärtigt er das menschliche Mysterium. Das Göttliche wie Banale des Menschseins, seine Blödigkeit und seinen Dreck. „Irrewirre“ lässt er in „Macbeth“ die Hexen raunen. Allein für dieses „Irrewirre“ als Bild für den Menschheitszustand gebührt ihm die Palme. – Diese Shakespeares von Thomas Brasch! Sie leben fort, werden viel gespielt. Sie taugen allemal für den Parnass. Wie seine früh vollendete Dichtung aus jenen ersten Schreib-Jahren eingesperrt im „VEB Zukunft“, da Brasch zum Verrücktwerden entdeckte, wie sehr das Herz ihm blutet, die Welt ihn schmerzt. – „Ach, wenn ihr mich gestorben habt, lebt ihr mich einfach weiter.“