14. Jahrgang | Nummer 24 | 28. November 2011

Am Abgrund

von Heiner Flassbeck, Genf

Wenn man wie ich in der letzten Woche durch die Welt reist und Wirtschaftskonferenzen besucht, muss einem Angst und Bange werden. Die Unsicherheit der professionellen Ökonomen, aber auch der normalen Bürger ist mit Händen zu greifen. Das ist gefährlich. Wer unsicher ist, wessen Weltbild tief erschüttert ist, der macht Dinge, mit denen niemand vorher rechnet. Die globale Unsicherheit ist diesmal viel größer als ich das jemals vorher in meinen 35 Berufsjahren erlebt habe.
Es kommt einfach zu vieles zusammen. Die USA, die keinen Ausweg aus der Stagnation finden und deswegen jede noch so kleine Wachstumsrate wie im dritten Quartal dieses Jahres bejubeln. Japan, das nach den Natur- und von Menschenhand begünstigten Katastrophen zu Beginn dieses Jahres weder politisch noch wirtschaftlich auf die Füße kommt, und Europa, das sich als vollkommen unfähig zeigt, mit seinen Problemen Vernunft getrieben umzugehen.
Nimmt man hinzu, dass in allen diesen Regionen die Einkommen des durchschnittlichen Bürgers seit Jahren nicht mehr gestiegen sind, ist es nicht verwunderlich, dass jeder seine Groschen zusammenhält und versucht, irgendwie über die Runden zu kommen. Wenn dann noch, wie schon lange in Deutschland, aber jetzt auch in Frankreich, Italien und anderen Ländern der Währungsunion, von den regierenden Politikern Gürtel-enger-Schnallen in emotionalen Appellen als einziger Weg aus der Misere verordnet wird, ist das die Ur-Suppe, aus der ganz große Krisen entstehen.
Beispiel Deutschland. Während sich die regierenden Politiker Tag und Nacht mit dem lächerlich kleinen Griechenland abmühen, haben sie die „Kleinigkeit“ übersehen, dass ihr eigenes Land in eine Rezession gerät. Der wichtigste Indikator, die Auftragseingänge in der deutschen Industrie, sind im September regelrecht abgestürzt. Das zeigt, wie anfällig das Land ist, von dem viele behauptet haben, es würde nun, gestützt auf seine Inlandsnachfrage, auf einen langen und stabilen Aufschwung vertrauen können.
Das ist bitter, zum einen, weil Europas Oberlehrer nun in der Gefahr ist, selbst sitzen zu bleiben, es ist aber vor allem bitter, weil damit Deutschland die Nachwirkungen seiner eigenen Rezepte zu spüren bekommt. Weil alle anderen Länder, auch auf Druck Deutschlands, kräftig sparen, kaufen sie natürlich weniger im Ausland ein und treffen so die deutschen Ausfuhren.
Wenn aber in Deutschland der Exportmotor nicht mehr brummt, wie will man aus einer solchen Rezession wieder herausfinden, wenn alle Welt spart? Ist jemand noch so naiv zu glauben, die deutschen Unternehmen, die in der Tat in Geld schwimmen, würden bei sich abschwächender Konjunktur neue Investitionen in einem Maße auslösen, dass damit die Nachfrageschwäche der übrigen Sektoren ausgeglichen werden könnte?
Nein, wenn die Politik in Deutschland nicht bald begreift, dass man sich aus einer globalen Konjunkturschwäche nicht heraussparen kann, dann werden wir in einer tiefen Rezession enden. Diesen einfachen Zusammenhang anzuerkennen, ist aber in Deutschland aus ideologischen Gründen verboten. In den USA fragte mich kürzlich ein Kollege in sehr gutem Deutsch, wie es sein könne, dass in Deutschland nicht nur die Politik, sondern auch 90 Prozent der Medien den „Sparunsinn“, wie er es nannte, verbreiten könnten. So gleichgeschaltet könnten die Medien doch gar nicht sein, dass man andere Meinungen über das Sparen, die im Rest der Welt breit diskutiert würden, in Germany lange suchen müsste.
Stattdessen feiert man die niedrigsten Zinsen, die der Staat je für seine Anleihen zahlen müsste. Was ist denn das Signal, das in diesen Zinsen steckt? Wenn die Nachfrage nach einem Produkt hoch ist, und nichts anderes bedeuten niedrige Zinsen (weil dies ausdrückt, dass der Preis der Anleihen hoch ist), würde jeder vernünftige Unternehmer mehr davon produzieren. Aber selbst dieser einfache und absolut marktkonforme Zusammenhang wird ignoriert.
So gehen wir in dunkle Zeiten. Ohne Not und nur basierend auf schlichter Ideologie wird Europa an den Abgrund geführt. Es vergeht kein Tag, an dem nicht mit neuen Gerüchten und Vorwürfen, die zuletzt in der „Aufforderung“ an Griechenland gipfelten, den Euroraum zu verlassen, dafür gesorgt wird, dass der Prozess der Deintegration, der sich ohne solche „Einflussnahme“ über Jahre hinziehen könnte, sich rasant beschleunigt. Was sollen Menschen in Südeuropa oder in Irland tun, wenn sie Tag für Tag von den mächtigen Deutschen hören, wie schlecht ihre Regierungen sind, wie kaputt ihr System ist und wie wenig Chancen sie auf eine dauerhafte Bleibe in der europäischen Gemeinschaft haben?
Sie tun, was jeder tun würde, solange noch Zeit dafür ist. Sie ziehen ihr Geld aus dem heimischen Bankensystem ab und legen es in Deutschland oder der Schweiz an, selbst wenn sie keine Zinsen bekommen. In Irland hat es ein irischer Ökonom auf die schöne Formel gebracht: Wer will schon eines Tages aufwachen und feststellen, dass das Geld auf seinem Konto sich halbiert hat, weil es nicht mehr Euro, sondern Drachme heißt.
Das beschreibt nichts anderes als die Gefahr eines Bankruns, einer Situation, wo jeder innerhalb kürzester Zeit versucht, sein Geld zu sichern und es deswegen nicht möglich ist. Noch vollzieht sich das schleichend, aber das macht es nicht besser. Wenn die Banken in Südeuropa plötzlich ohne Einlagen dastehen, können sie keine Kredite mehr vergeben und verlieren die Geschäftsgrundlage. Das aber kann jederzeit eskalieren und ganze Bankensysteme innerhalb von Wochen oder gar Tagen zur Implosion bringen.
Was tun? Wenn die Politik weiter stur bleibt, gibt es für die Menschen nur noch die Möglichkeit, ihre Frustration auf der Straße zum Ausdruck zu bringen. Was wir auf vielen Plätzen und Straßen weltweit schon sehen, wird vielleicht der Beginn einer Massenbewegung der Empörten werden, die nicht mehr hinnehmen wollen, dass ihre eigene und die Zukunft ihrer Kinder aufs Spiel gesetzt wird.

Aus Wirtschaft und Markt 12 / 2011. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.