14. Jahrgang | Nummer 20 | 3. Oktober 2011

Gedanken zur Papstvisite

von Hermann-Peter Eberlein

Den Besuch Papst Benedikts in Deutschland kann man aus unterschiedlicher Warte betrachten: als Staatsbürger, als Katholik, als Protestant, als Moslem, als Atheist. Ich bin weder Moslem noch Atheist und ich bin auch kein Katholik. Die inneren Probleme der römischen Kirche von Austritte bis Zölibat kann ich nicht aus eigenem Erleben beurteilen. Sie interessieren mich nur aus der neugierigen Distanz des Nicht-Betroffenen heraus, also nicht ernsthaft, und ich empfand es als Zumutung, nun über Wochen mit ihnen in allen Gazetten und auf allen Sendern belästigt worden zu sein. So wichtig, wie es der Medienrummel erscheinen lässt, ist die Sancta romana ecclesia nicht.
Ich bin Staatsbürger und Protestant. Als Staatsbürger betrachte ich den Besuch des vatikanischen Staatsoberhauptes in unserem Land etwa so, wie ich den Besuch des Königs von Tonga oder des Präsidenten der Republik Nauru betrachte: es gehört zu den internationalen Gepflogenheiten, solche Besuche zu machen, es gehört sich, einem Gast den gebührenden Respekt zu erweisen und der Gast hat sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen, das ihn eingeladen hat. So einfach ist das.
Doch so einfach scheint es eben nicht zu sein. Der absolut regierende Monarch des kleinsten souveränen Staates der Erde ist zugleich Oberhaupt der größten einheitlich organisierten Religionsgemeinschaft der Welt, der in Deutschland immerhin fast ein Drittel der Bevölkerung angehört und die durch Konkordate mit Bund und Ländern in völkerrechtlicher Beziehung steht. Religionen geben Antworten auf die elementarsten und zugleich umfassendsten Fragen, die Menschen stellen können, und sie tun das – anders als etwa die empirischen Wissenschaften – nicht auf rein rationale Art. Sie sprechen den Menschen als handelndes Wesen mit allen seinen Fähigkeiten an: intellektuell, emotional, sinnlich. Religiöses Erleben hat für den, den es trifft, eine absolute Evidenz und Wahrheit; Religionsgesellschaften neigen daher zu Totalansichten und Totalansprüchen. Die aber haben ihren Platz nur im Privaten, nicht in unserer Gesellschaft.
In welcher Rolle eigentlich hat der Papst im Bundestag gesprochen? Hat er es so getan, wie es der König von Bhutan getan hätte oder der Präsident von Sao Tomé und Principe? Definitiv nicht. Er hat als Religionsführer gesprochen, hat den Staat an seine Begründung durch das Recht erinnert, das ethische Fundament der Wissenschaft eingefordert und, ganz im Sinne der klassischen thomistischen natürlichen Theologie, die Würde des Oikos gepriesen. Dies alles bescheiden, sanft, gelegentlich im Frageton und mit einer Prise Selbstironie. Trotzdem: Ist es Aufgabe des Bundestages, einem Religionsführer Platz zu einer Grundsatzrede zu geben (was meines Erachtens keine Entschuldigung darstellt für demonstratives Wegbleiben bei der Rede eines Staatsgastes, dem man Respekt zu erweisen hat)? Oder sollte man nicht wieder zu den guten und sinnvollen Unterscheidungen zurückfinden, die doch so einfach sind?
Als Protestant betrachte ich den Besuch mit gemischten Gefühlen. Einerseits repräsentiert der römische Papst (es gibt schließlich noch andere, darunter den koptischen) eine christliche Kirche, mit der der Protestantismus drei Viertel seiner Geschichte teilt und zu der er daher seine Beziehung klären muss. Dass man dies nicht mehr wie der späte Luther aus blankem Hass heraus tut („Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steur‘ des Papsts und Türken Mord …“), ist ein gewaltiger Fortschritt – aber muss man sich so von Josef Ratzinger durchs Gehege treiben lassen, wie es der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, mit sich geschehen ließ, der am Ende nichts mitbrachte als die Erfahrung, dass man gemeinsam beten konnte? Benedikt weiß ganz genau: sein Kirchenmodell und das des Protestantismus sind nicht kompatibel, er verhält sich entsprechend und lässt die protestantischen Kirchenvertreter immer wieder auflaufen. Er vertritt eine Kirche, die sich als universale, Himmel und Erde umspannende Institution der Solidarität, der Liebe und der Gnade versteht, in der das Individuum freilich nicht mehr ist und sein kann als Teil des Kollektivs, das durch eine in ihrer Autorität unbefragbare Hierarchie geleitet und geschützt wird. Dieses Modell, das die orthodoxen und orientalischen Kirchen teilen, ist imposant – mindestens so imposant wie das der Kommunistischen Partei. Doch wie vor der klassenlosen Gesellschaft dort die Diktatur des Proletariats steht, so steht vor dem Reiche Gottes hier die Diktatur der Hierarchie – darin liegt der eigentliche Grund für die Resistenz des Vatikan gegen jede innerkirchliche Demokratisierung.
Das ist nicht das Kirchenmodell des Protestantismus. Die Reformation hat mit einem Freiheitspathos begonnen, dem in der europäischen Geschichte nur noch das der Französischen Revolution an die Seite zu stellen ist. Sie hat an die Stelle eines kollektiv und damit hierarchisch vermittelten Glaubens einen personalen, individuellen Bezug zu Gott – anders ausgedrückt: einen zwar noch nicht autonomen, aber unmittelbaren Zugang zu den großen Fragen von Welt und Selbst – eröffnet. Und wenn das evangelische Landeskirchentum der folgenden Jahrhunderte diese Impulse auch immer wieder verraten hat, so sind sie doch in den Nebenströmungen des Protestantismus, später im Pietismus, bei Lessing und Kant lebendig geblieben und haben schließlich im 19. Jahrhundert in der Gefühlsphilosophie der Romantik und im Universalismus des Idealismus die bestimmende Grundlage eines humanistischen Selbstverständnisses bilden können, auf dem auch der Protestantismus der Gegenwart trotz aller Gebrochenheit noch beruht. Aus diesem Geist heraus hat der Protestantismus seine beiden größten und für die Christentumsgeschichte irreversiblen Leistungen vollbringen können: die Erforschung des Lebens Jesu, deren Geschichte Albert Schweitzer kongenial beschrieben hat, und die historische Dogmenkritik, die mit dem Namen Adolf von Harnack verbunden ist.
Josef Ratzinger ist viel zu klug, um die Ergebnisse dieser Kritik einfach zu ignorieren: er nimmt sie – etwa in seinem so bescheiden daherkommenden Jesus-Buch – auf, um sie sofort einzuweben in sein Konzept einer Kirche, die die göttliche Liebe hierarchisch und zum Besten aller verwaltet. Dostojewskis Großinquisitor lebt. Er ist ein persönlich sympathischer Mann: klein, alt, zart und gebrechlich, von intellektueller Schärfe und voller Humor – und zugleich von dem unbeugsamen Willen beseelt, den einmal für wahr erkannten Totalanspruch wider jede Relativierung zu verteidigen. Wir haben ihn gesehen und gehört: in Berlin, Erfurt, Freiburg und auf dem Eichsfeld. Das reicht.